Mittwoch, 23. Februar 2011

Das Ende aller Träume


Auch bei mehrfachem Hinschauen wird die Farbe nicht klar. Alles Blinzeln hilft nichts. Als die Sonne über dem Yosemite Valley untergeht, rattert der menschliche Atem stockend dahin: Magisch zieht die unbeschreibliche Farbpalette, in der das Tal erstrahlt, die Besucher in ihren Bann. Auf knapp eintausend Metern, am Glacier Point, tummeln sich die Touristen. Hier am populärsten Punkt des Yosemite National Park. Der Blick über nur fünf Prozent jenes 3100 Quadratkilometermeter gewaltigen Protzes der Natur und seiner Gipfel, die über den westlichen Hängen der kalifornischen Sierra Nevada thronen, ist einhundertprozentiges, pures und reines Vergnügen. Das Kommen und Gehen der Gletscher hat diesen Teil des Parks im Laufe der Jahrzehntausende zu einem Monument der Zeitgeschichte geformt.

Vom Glacier Point fällt der Blick geradewegs auf die steilen Wände der Kolosse Half Dome und El Capitan. Letztgenannter ist auf tausend vertikalen Metern das Mekka der alpinen Kletter-Fanatiker. Wer es mit „El Cap“ aufnimmt, schnürt nicht nur seine Schuhe. Wer hier seinen Wahnsinn verewigen will, übergibt sich freimütig in die wählerischen Hände der Natur. Nur die Besten schaffen diesen Aufstieg – El Capitans Mythos machte ihn zu einem der populärsten Alpin-Spots der Staaten. Sein Bruder, der mächtige Half Dome-Fels, raubt dem staunenden Besucher nicht weniger das Fassungsvermögen. 2.693 Meter über dem Meeresspiegel ragt er stolz über dem zu seinen Füßen schlummernden Schönen, bildet steinern das Dach dieses Auswuchses geologischer Erotik.

Eine surreale Darbietung

Es sind die letzten sonnendurch-fluteten Minuten dieses Julitages. Selbst jene Burberry- und Lacoste-gewandeten Fremdkörper, die sich zur Erfüllung ihres (hoheits-) gesellschaftlichen Anspruches in die Sammlung staunender Jünger purer Ästhetik verirrten, haben die luxuriös verspiegelten Sonnenbrillen von den Gesichtern gezogen. Jeder sehnt die reine Empfängnis der Schönheit des Momentes herbei. Das leise Klicken der Fotokameras verschärft das unterschwellige Gemurmel der Gemeinde am Glacier Point. Man kneift die Augen zusammen und keucht im Angesicht der atemberaubenden Finesse des Farbschauspieles, dass auf den Felsen von Half Dome und El Capitan in fünf Akten dargeboten wird. Ob der Granit nun braun, rot, orange, grau oder weiß in der Abendsonne schimmert, hängt vom Einfallswinkel des Lichtes ab und bindet sich von Quadrat- zu Quadratmeter neu zu einer undefinierbar anziehenden Melange. Während die Schatten des letzten Vorhanges langsam über das Tal fallen und auch der Glacier Point zunehmend verwaist, bleiben wir noch einen Moment sitzen. Zu surreal die Darbietung, um mit der stumpfen, motorisierten Rückkehr ins Nachtlager den Schauspielern ungenügend gerecht zu werden. Ein vorerst letztes Mal ergötzen wir uns an diesem Gigantentum, ehe die Sonne hinter den Gipfeln verschwindet.

In der morgendlichen Herrgottsfrüh reißt uns das lodernde Feuer der Begeisterung aus den wirren Träumen von in Stein gemeißelten Königen. Drüben am El Cap sieht man auf halber Strecke schwache Quellen des Lichts baumeln – der Angriff auf den unbezwingbaren Riesen geht in die zweite Runde. Gerade einmal halb fünf kann es sein, verrät uns das unsägliche Piepen des Weckers, das uns unser knisterndes Feuer erst spüren lässt. Ein weiterer Tag im Paradies.

Die Königsetappe auf dem John Muir-Trail

Ein Paradies, das wir in den kommenden Stunden immer wieder respektvoll verfluchen werden. Immerhin setzen wir heute zum – so unsere Berechnung – etwa zwölfstündigen Himmelssturm an. Denn anders als der Kapitän ist Half Dome auch für wagemutige Wanderer zu bezwingen. Diesem Ziel, dieser Königsetappe der über eintausend Kilometer Wanderwege im Yosemite, haben wir uns verschrieben. Der Geologe John Muir, geistiger Vater des Parks, gab dem Pfad seinen Namen. Er adelte Yosemite ehrfürchtig „the incomparable valley“ – das unvergleichliche Tal. Der gute Kilometer Höhenunterschied auf den insgesamt knapp 16 Meilen unserer Wegstrecke verleiht dem Wahnsinn, dem wir uns nun stellen, numerischen Ausdruck.

Schon früh beginnen die Waden zu brennen. Im Schatten der noch dichten Vegetation füllt die vielleicht noch nie so frisch dahergekommene Morgenluft unsere Lungen. Doping powered by Mutter Natur. Zwar können wir den Heerscharen dicklicher Touristen, die sich später in den unteren Regionen dieser Wanderpfade den Schweiß von der Stirn wischen werden, entfliehen, allein auf dem Weg nach oben sind wir allerdings keinesfalls. Vögel kündigen mal krächzend, mal klangvoll jubilierend unsichtbar in den Baumkronen versteckt noch den neuen Tag an, da sind Eichhörnchen und Rehe im Unterholz schon längst dabei, den Frühstückstisch zu decken. Rechts neben uns erhebt sich das Tal immer steiler gen Himmel, links des Weges stürzt ein Wasserfall im Sonnenlichte schillernd tosend in die Tiefe. Gleich neun dieser donnernden Ungeheuer gibt es in dem gerade einmal dreizehn Kilometer langen Tal, fünf von ihnen über 300 Meter tief. Ihr Regent: Die Yosemite Falls, die siebenhundertvierzig lange Meter im Sog der Schwerkraft gen erbarmungslosem Fels fallen.

Ein allzu zugänglicher Garten Eden

Durch die endlich etwas lichteren Bäume schillert uns ein kristallklarer Regenbogen entgegen, er wirkt wie ein Wegweiser Richtung Himmelspforte. Inzwischen ist es schon beinahe Mittag, die Sonne strahlt von ihrem höchsten Punkt. Sie ist Frust und Segen zugleich. Knapp dreißig Grad und die extremen körperlichen Anstrengungen zehren an Physis und Geist, während dieser allzu zugängliche Garten Eden im Licht funkelt. Auf den zahllosen Bächen und Rinnserln, die hier noch nichtsahnend gemütlich dahinfließen, jagen die Wasserläufer einander nach. Das Flussgras schmiegt sich sanft an die seichte Brise. Die Luft ist erfüllt von der Geräuschkulisse der ungemeinen Artenvielfalt des Lebens. Wir verdanken es unserem frühen Aufbruch, dass nur sehr selten andere Menschen unsere Rast stören, während wir auf dem Gefühlshoch dahinschwelgen. Die Spuren profilöser Stiefel im Sande des Weges sind – gerade ist ein uns entgegenkommender Wanderer aus unserem Sichtfeld entschwunden – der einzige Hinweis darauf, dass neben Adam und Eva noch weiteres intelligentes Leben auf den paradiesischen Pfaden dieser Vollkommenheit wandeln muss.

Will man den circus maximus der Natur in seiner ganzen Schönheit erleben, muss man im Angesicht des steten, postkartenfüllenden Gigantismus waghalsige Liebe für das Detail entwickeln.
Erklärungen, warum die Region schon 1890 zum Nationalpark erkoren wurde, liefern El Capitan und sein Gefolge unentwegt. Schon die ersten Siedler schwärmten von der Gegend, auch sie zog Yosemite in seinen Bann. Wer einmal hier war, den wird die charmante Mixtur von Extremen und manchmal schlicht daherkommender Schönheit auf dem weiteren Lebensweg stets treu begleiten. Die Bilder von sommergrünen Wiesen, kristallklaren Bächen und den riesigen Sequoia-Trees (mit bis zu zehn Metern Durchmesser sind diese manchmal gar einhundert Metern hohen, sechstausend Tonnen schweren Mammutbäume die größten Lebewesen der Welt) speisen die menschliche Seele unweigerlich mit faszinierender Lebensfreude.

Welcome to Bear Country


Die Luft wird merklich dünner. Wir nähern uns dem Gipfelsturm. Noch aber geht es nach lichten Ebenenwanderungen immer wieder durch schattiges Waldgebiet auf stetig steilen Trassen hinauf. Die konsequente Abgeschiedenheit lädt immer mehr Säuger ein, neuen Lebensraum zu besiedeln. Kaum fünf Minuten verstreichen, ohne dass uns ein frecher Nager beinahe vorwurfsvoll und ohne viel Scheu mit stummen Blicken auffordert, endlich nahrhafte Kost – „gern auch eure Erdnüsse, wenn ich bitten darf“ - fallen zu lassen. Das Schlaraffenland macht faul. Der Parkverwaltung verursacht die freiwillige und unfreiwillige Spendierfreundlichkeit ihrer Besucher Probleme. Während hier oben eine – wohl nicht ganz unabsichtlich – fallen gelassene Nuss den sprichwörtlichen Kohl nicht fett macht, sind die Camper im Tal strikt angewiesen, sämtliche Lebensmittel in extra aufgestellten Futtercontainern einzuschließen.

Yosemite ist Bear-Country. Die von weitem so tapsig daherkommenden Schwarz- und Braunbären rücken dem Menschen auf ihrer Nahrungssuche bisweilen gefährlich dicht auf den Leib. Selbst Zahnpasta lockt Knut und Co. – die rostigen Nahrungsmittelsafes erfüllen ihren Sicherheitsdienst. Selbst in verschlossenen Automobilen verstautes Essen stoppt die Bären nicht zwangsläufig. Während Schwarz- und Braunbären weiter durch die unendlichen Wälder streifen, sucht man die Könige ihrer Art seit mehr als einem Jahrhundert vergebens. O-ham-i-tee nannten die Indianer den Grizzlybär, dessen letzter Vertreter hier schon 1895 erlegt wurde. Trotz des idealen Lebensraumes ist auch die Verbreitung ihrer Nachfolger im Yosemite eingeschränkt. Nicht viele Besucher haben das Glück, eines der majestätischen Tiere aus sicherer Entfernung bestaunen zu dürfen. Wir erspähen in zwei Tagen gleich sieben. Welch königliches Hochgefühl.

L’Alp d‘Huez

Plötzlich und ohne Vorwarnung tut sich vor uns ein kahles Monstrum auf. Die Rückseite des Half Dome stoppt überwältigend die Wanderslust. Noch immer haben wir einhundertzwanzig Höhenmeter zu beschreiten, der Wanderbegriff verfällt mit dieser Schwelle der Bedeutungslosigkeit. Im 45 Grad-Winkel geht es an in den glatten Fels gelassenen Stahlketten auf unser persönliches Alp d’Huez. Einzig einige abgenutzte Arbeitshandschuhe für den besseren Griff vegetieren zu unseren Füßen. Meine Courage liegt gleich daneben. Begeistert und mit wackligen Knien zieht mich die mit jedem Schritt zunehmend entweichende Muskelkraft unter Schweiß keuchend auf dem Weg nach oben. Der atemberaubende Blick zur Seite oder gar die Kehrtwende verbieten sich. Ich merke, wie die feuchten Hände in den Handschuhen keinesfalls den Grip verstärken. Noch ein letzter Zug und mein erstes wahrhaftes Bergsteiger-Abenteuer nimmt sein spektakuläres Ende. Denn das, was sich den müden Gliedern und dem ekstatischen Geist nun visuell eröffnet, entzieht der realen Existenz den Boden unter den zittrigen Füßen.

Kein Wort würde jene sagenhafte Schönheit gebührend einfangen, die sich den wagemutigen und wankelmütigen Wahnsinnigen am oberen Ende einer simplen Stahlkette zwischen Euphorie und Ableben offenbart. Der Glacier Point verkümmert zur müden Aussichtsplattform, der erhabene Blick auf das große Ganze potenziert unsere Faszination des Vortages. Während Geist und Seele jubilieren, fällt dem Herzen die Entscheidung zwischen Raserei und erstauntem Stocken unsäglich schwer. Ein Stück Fels lädt freundlich ein, doch ein paar Minuten zu ruhen. Die warme Sommersonne lächelt mir ins Gesicht. Ich fühle mich ihr seltsam nah. Oh Augenblick, verweile doch – du bist so schön! Ich döse leicht. Zu träumen ist hier ohne Sinn.

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