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Dienstag, 1. März 2011
Gefangen im Wilden Westen
Das alte Holz der Veranda knarrt, zweimal hört man das metallene Klacken der Sporen. Tick, Tack. Dann bleibt der Mann stehen. Hinter ihm schwingt die Flügeltür zum Saloon zurück. Direkt an der Kante der zwei Stufen bis zum Staub steht er. Man schaut langsam an ihm hoch – vom kunstvoll prägnanten Stiefelwerk himmelwärts entlang der braunen Lederhose, die vom lässig weiten Gürtel gesäumt wird. An seiner rechten Hüfte baumelt im Halfter der Colt. Das weit aufgeknöpfte Hemd steckt in der Hose, wird von der ledernen Weste optisch abgedämpft. Auch das Halstuch kann die braungebrannte Brust unter dem Hemd nicht vollends verbergen. Man erkennt ein kleines hölzernes Kreuz an einem Stück Kordel. Weit ins Gesicht gezogen thront der Cowboyhut auf dieser nostalgischen Erscheinung. Unrasiert und betont grimmig dreinschauend tritt der Mann die Stufen herunter. Drei Schritte. Tick, Tack, Tick. Der aufgewirbelte Staub vom knochentrockenen Boden wird von einer leichten Brise davon getragen. Kein Mensch sagt ein Wort, zu imposant kommt dieser Kanonenheld daher.
Die Fassade beginnt zu bröckeln
Plötzlich lacht einer. Ein zweiter. Der Mann kann die eben noch wie in Stein gemeißelte ernste Mimik einfach nicht mehr halten, muss grinsen. Das „Howdy“, das er in einem ungewollten Anflug von Heiterkeit herauspresst, lässt die Tarnung auffliegen. Cowboys mit britischem Akzent sind in South Dakota nicht besonders breit gestreut. Andy kann seine englische Herkunft nicht verbergen, trotz perfekten Auftretens ist die Blase geplatzt. Ich muss nun so sehr lachen, dass mir in meiner Unachtsamkeit eine Windböe den eigenen Hut vom Kopf reißt. Mein Erscheinungsbild unterscheidet sich nur marginal von dem dieses entblößten Outlaws. Schaut man die hölzernen Häuser herunter, prägen noch mehr dieser Karl May’schen Relikte die Wild Western-Szenerie.
Nicht umsonst heißt dieses ur-amerikanische Fleckchen 1880-Town. Die Besitzer, ein in die Jahre gekommenes Ehepaar, lächeln jeden der noch an zehn Fingern abzählbaren Besucher an diesem warmen Morgen Anfang August freundlich an. Sie selbst tragen traditionelle Cowboy-Trachten. Kommt sie als ehrbare Mistress daher, steckt er selbst bis knapp unter den Kniekehlen in fein gearbeiteten Lederboots. Neun Dollar tauschen die Autos auf dem Parkplatz vor dem als Museum, Gift-Shop und Eingang fungierenden Holzverschlag gegen hölzerne Kutschen, Saloons und sonstige Bestandteile einer waschechten Western-Stadt. Eine einmalige Zeitreise beginnt.
Ein Sack Kiesel
Das Schild, das leise im Wind schwingend in abblätternder Farbe „Sheriff“ warnt, ist das letzte Detail, das ich wahrnehmen kann, ehe das Schloss klickt und ich hinter Gittern lande. Auch nach 130 Jahren darf man noch nicht wild den Colt schwingend und das Halstuch über Mund und Nase gezogen in eine Bank spazieren und den dort lagernden Goldsack entwenden. Der ist zwar nur mit Kieselsteinen gefüllt – es geht ums Prinzip. Der Streit um die Beute eskalierte vor der Tür zwischen zwei ehemaligen Komplizen. Plötzlich ist Andy nicht mehr auf meiner Seite, will sich mit dem Säckchen Reichtum alleine aus dem Staub machen. Wir stehen uns in dreißig Fuß Entfernung gegenüber, die Hand nur Zentimeter über dem locker sitzenden Schießeisen schwebend. Wir sind bereit, den schneller Ziehenden mit einem erbärmlichen Rest Ruhm und dem Goldsack entkommen zu lassen, während sein Gegenüber tödlich getroffen mit dem Gesicht im Staub auf die Geier warten wird. Da kommt der Sheriff um die Ecke, plötzlich und unerwartet. Die wilde Schießerei kostet mehrere seiner Männer das Leben, schließlich sind wir aber doch umstellt. Statt bei einer Runde Poker und Feuerwasser im Saloon fröhlich die Beute zu verschleudern droht uns nun der Galgen. Immerhin waren auf unsere Köpfe 10.000 Dollar Belohnung ausgesetzt. Diese spart der Sheriff nun, da er uns selber quasi vor der eigenen Haustür zur Strecke gebracht hat.
Die schwere Eisentür ist hinter uns ins Schloss gefallen. Jason in seiner Gesetzeshüter-Tracht lacht draußen triumphierend, während Andy und ich uns einen kurzen, erbitterten Kampf um die enge, ungemütliche Holzpritsche liefern. Wir werden nicht lange einsitzen, werden dem Galgen entkommen. Denn der Sheriff ist eigentlich auf unserer Seite.
Besuch von Kevin Costner
Noch einmal fünf Dollar – fünf läppische Dollar – zahlt man in 1880-Town, um aus einem scheinbar unerschöpflichen Fundus von Cowboy-Gewändern die passende Verkleidung auszusuchen. Sweatshirt und Jeans sind schnell achtlos in die Ecke geworfen und gegen Stiefel, lederne Hose und weites Hemd getauscht. Der Wettlauf um die beste John Wayne-Kopie ist längst entbrannt. Dass es die Besitzer dieses Freiluft-Museums mit ihrer Sache ernst meinen ist die eigentliche Ironie dieses Ausfluges in kindliche Traumwelten. Plötzlich werden längst vergangen geglaubte Geburtstags-Mottopartys trügerische Beinahe-Realität. So greifbar, dass selbst die Traumfabrik aus Hollywood mitten in der Prärie South Dakotas Halt machte, um Teile seines Erfolgsstreifens „Der mit dem Wolf tanzt“ hier zu drehen.
Der junge Kevin Costner ist nur einer der wenigen Besucher, die die stolzen Besitzer in den letzten mehr als dreißig Jahren begrüßen konnten. Heute Morgen sind wir es, die sich in den dreißig altgediegenen Western-Stätten mit ihren unzähligen Repliken in unseren Fantasien verlieren. Amerikana nennt man die auf US-Traditionen aufbauenden kulturellen Erscheinungen wie diese Cowboy-Stadt, die sich hier im ehemaligen „Wilden Westen“ ballen. Dort, wo früher die Sioux-Indianer durch die Prärie ritten, hat lange nach den ersten Siedlern freilich die Moderne Einzug gehalten und lässt den magischen Ort 1880-Town deshalb nur noch unwirklicher daherkommen.
Die Zeit drängt
Anderthalb Stunden haben wir uns als maximales Zeitfenster für diesen Stop gesetzt. Zu lang ist die Strecke, die wir noch zurücklegen wollen auf unserem Weg ins ferne Chicago. Neunzig Minuten flogen auch vor 130 Jahren noch nur so dahin, verbringt man sie damit, den Akku der Digitalkamera auf Äußerste zu strapazieren. Der Fotoapparat passt nicht in diesen Ort, in dem Verbrechen noch mit der Schlinge um den Hals oder in Teer und Federn endeten. Und doch können wir nicht auf ihn verzichten. In ein paar Augenblicken werden wir dort vorne wieder durch den Giftshop hinaus zu unserem Auto gehen. Wenn die Flügeltür dann zurückschwingt, sind wir wieder da im Hier und Jetzt. Dann ergänzen und erfrischen die Fotografien unsere Erinnerungen an einen Ort, in dem wohl jede Western-Legende schon mindestens ein Dutzend Male spielend nachempfunden wurde. Und was dann bleibt, sind die glänzenden Augen und das Lächeln eines kleinen Jungen an seinem sechsten Geburtstag.
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