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Mittwoch, 16. Februar 2011
Die mit den Wölfen tanzen
Ein dröhnendes Knattern liegt in der Luft, als unser Van die Interstate 90 gen Osten entlang rollt. Wir rauschen an einem Schild vorbei. Sturgis – Exit 30 – 10 Miles. Das Knattern wird lauter. Es ist August, einer der wärmsten Monate hier in Amerikas mittlerem Westen, in South Dakota. 35 Grad Außentemperatur zeigt das Thermometer an. Die Klimaanlage ist ausgefallen, die Fenster weit herunter gedreht. Das laue Lüftchen Fahrtwind verschafft kaum Abkühlung. Und immer noch ist es da, dieses Knattern, dieses bedrohliche Brummen wie das eines wütenden Bienenschwarmes. Immer wieder hatten uns an diesem Tag auf der Gegenspur Motorräder passiert. Was sich nun allerdings in den wenigen Quadratzentimetern Rückspiegel abspielt, in den ich mit einem Auge luge, lässt mich beinahe von der Straße abkommen. Hunderte Biker reihen sich dort auf wie in einer Prozession der Freiheit. Plötzlich ist unser Van das einzige Gefährt auf der Straße, das mehr als zwei Räder aufweist.
Eine Tankstelle. Wir fahren rechts ran. An den Zapfsäulen stehen Karossen, die Motorrad-Liebhabern daheim eine doppelseitige schriftliche Liebeserklärung abringen könnten. Der Zeiger auf dem Armaturenbrett bedeutet einen zu dreiviertel gefüllten Tank. Ich muss den in ledernen Hosen, einem Harley Davidson-T-Shirt, Lederweste und schwarzer Sonnenbrille gewandten Mittfünfziger in seiner Seelenruhe bei der Befüllung seines offensichtlichen Lebensinhaltes also nicht in unnötige Eile versetzen. Auch auf dem Vorplatz erstrahlt hundertfach Chrom in der geißenden Mittagssonne. Wir betreten auf unserer verzweifelten Suche nach Abkühlung den kleinen Shop. Erst wenige Schritte vor der Tür richte ich mein Augenmerk bewusst auf die Beschilderung der Baracke. „Sturgis“ erklärt dort Leuchtreklame in allen erdenklichen Farben. Ein Wort als Inbegriff einer Pilgerstätte.
"I rode mine to Sturgis"
Noch bevor ich den Türknopf berühren kann, mache ich einen Schritt zurück. Aus dem Laden stapft ein Mann, der jeden Hells Angel zum Schulmädchen verkommen ließe. Ein undeutbares Grunzen als Zeichen eingeforderter Autorität – oder war es doch nur ein freundlicher Gruß? - da stapft der korpulente, schweißgebadete Rocker in Richtung seiner Harley. Auf dieser drapiert wartet bereits seine strohblonde, vollbusige und eine Nadelröhr-Taille ihr eigen nennende Angebetete mit lüsternem Blick. Eine beachtliche Mixtur aus Schweiß, Öl und Bier vernebelt sämtliche Geruchssinne auf dem Weg in den Laden. Auch drinnen kaum Besserung. „Sorry, unsere Klimaanlage funktioniert schon seit Wochen nicht mehr“, erklärt der Mann hinter dem Schalter mit schmalen Lippen. Der provisorisch aufgestellte kleine Ventilator hechelte seinem Ableben entgegen. Zumindest der Kühlschrank tat noch wie ihm befohlen, die kalten Getränke mussten ein Geschenk Gottes sein. Ich frische unsere zur Neige gegangenen Wasservorräte auf. Als ich die vier Flaschen nacheinander auf den Tresen stelle, mustert mich der sonnengegerbte Mann mit Truckercap und Schnauzer. Ohne ein Wort weist er mit dem Daumen auf das Schild neben seiner Kasse, welches offensichtlich Rabatte für Angehörige mir unbekannter Motorradklubs offeriert. Ich schüttle den Kopf. „Fünf Dollar“, weist mich der Verkäufer an. Ich reichte ihm einen Zehner. Inzwischen reihen sich hinter mir bereits drei weitere Kunden auf. Ein Blick über die Schulter verrät, dass sie definitiv von der ausgelobten Rabattaktion profitieren würden. Der „fuckin‘ van“ habe genau vor seiner Maschine geparkt, höre ich den einen zu seinem Kollegen sagen. Was genau er am liebsten mit meinem Vehikel gemacht hätte, verstehe ich zum Glück nicht. Ich nehme hastig die fünf Dollar Wechselgeld und verlasse den Laden, ohne dem erbosten Bär von einem Mann mit dem Totenkopf-Tattoo auf dem nackten Oberarm in seine sonnenbrillenverspiegelten Augen zu schauen. Im Vorbeigehen fällt mein Blick auf einen Aufnäher, der seine Lederweste ziert: „I rode mine to Sturgis.“
Draußen hätte ich am liebsten die sofortige Flucht angetreten. Schnurstracks auf unseren Wagen zusteuernd sehe ich Andy – einer der Jungs aus unserem Van - mit einem weiteren Zweiradfetischisten am Kofferraum des Vans stehen. Unsere Blicke kreuzten sich, er lächelt. Offenbar ein friedlicher Zeitgenosse. Ich erreiche die beiden und nicke Andy zu. Als Jim stellte sich der vielleicht gerade einmal einmetersiebzig kleine Mann vor, mit dem mein Kumpel so angeregt plauderte. Die Sonnenbrille baumelt ihm lässig um den Hals, auch sonst ist seine Erscheinung von den schweren Motorradstiefeln mal abgesehen wenig angsteinflößend. Ich erzähle ihm von meiner Begegnung mit dem Van-Gegner. Jim lacht. Einen „konservativen Traditionalisten“ nennt er den Krawallbruder und erklärt: „Seit Jahren kommen immer mehr Familien hierher, die ihre Maschinen in Vans verladen und nur die letzten Kilometer bis Sturgis auf zwei Rädern fahren“. Das käme bei den hartgesottenen Bikern natürlich nicht besonders gut an. Ich wisse doch, was Sturgis bedeutet, fragt er mit hochgezogener Augenbraue. Ich beeile mich, seine Frage zu bejahen. Dass mir der „Event Sturgis“ bis vor wenigen Tagen unbekannt war, verschweige ich. Der guten Gesprächsatmosphäre zur Liebe.
Hundert Biker auf einen Bewohner
In einer lokalen Zeitung hatte ich erstmals von der „Sturgis Motorcycle Rally“ erfahren. Viele Erklärungen hatte der Journalist nicht geliefert, lediglich einige Key Notes und die Ankündigung, dass es bald wieder soweit sei. Der Verfasser der Zeilen setzte offenbar voraus, dass ohnehin jeder wusste, worüber er schrieb. Immer klarer wird mir nun warum. Lebt man hier in den Black Hills, kann man sich dem Pilgern von Harley-Davidson und Co. kaum entziehen. Mehr als 500.000 Biker seien im Vorjahr nach Sturgis gekommen – eine für mich bis dato unvorstellbare Zahl, die sich nun langsam mit Leben füllt. Auch in diesem Jahr war die Rally wieder traditionell in die ersten Augusttage gelegt worden. Mit 600.000 Teilnehmern rechnen die Veranstalter, in etwa das hundertfache der Einwohnerzahl des an 360 Tagen im Jahr verschlafenen Nests Sturgis, ließ der Journalist seine Leser noch wissen. Er hatte sein Ziel erreicht, mich neugierig gemacht und den Schlenker von unserer geplanten Route gen Chicago verursacht. Einige Internetrecherche ergab zwar weitere interessante Details, wie zum Beispiel den Umstand, dass die erste Rally erstmals bereits 1938 mit gerade einmal neun Teilnehmern ausgetragen wurde, wirklich vorbereitet auf das, was uns nun scheinbar erwartete, hatte es allerdings nicht.
Als wir schließlich auf unseren vier Rädern in diese so unscheinbare Ansammlung von Häusern im verruchten amerikanischen mittleren Westen einrollen, ist es um die Motorradliebhaber unter uns geschehen. Nie wieder könne er einen Biker daheim in Australien ernst nehmen, höre ich hinten im Van Jason in begeisterter Enttäuschung stöhnen. Kein Zentimeter Straßenrand, der nicht mit zweirädrigem Luxus bepflanzt ist. Aus dem Vorgarten des nächsten Hauses dröhnt verschnarrter Bassgitarrensound aus provisorisch installierten Boxen, auf Campingstühlen duellieren sich Bärtige, Kahlgeschorene, Tätowierte und Faltige um die Wahl zum „Mister Bierbauch“. Auf einem Tisch steht ein gigantisches Fass, aus dem sich eine Gespielin dieser Ur-Freien gerade am goldenen Gerstensaft labt. Wie viele Hektoliter Budweiser, Corrs und sonstiger Bier-Granden in diesem einwöchigen Wahnsinn fließen, entzieht sich dem menschlichen Ermessen um ein vielfaches. Auch ein Haus weiter balzen die treuesten Anhänger Harley Davidsons dort, wo sonst der Enzian blüht. An der Veranda weht im lauen Lüftchen stolz die amerikanische Flagge, über den Musikkanal scheppert Steppenwolfs Ode an die Unangepasstheit. „Sturgis loves Sturgis“, schlägt es uns von einem selbst beschrifteten Plakat an der Gartenpforte entgegen. Eine Stadt im kollektiven Wahn.
Das Zentrum des Unfassbaren
Wir biegen an der nächsten Kreuzung ab, in eine etwas ruhigere Seitenstraße. Tatsächlichen entdecken wir ein verwaistes Stück Straßenrand. Ängstlich, es könnte das einzige in diesem gefährlich summenden Nest sein, navigiere ich den Van dort hinein, stelle den Motor ab. Zu Fuß machen wir uns auf, die Ekstase des hunderttausendefachen Fetischismus weiter zu erkunden. An der Ecke fällt uns ein Polizist auf. Er lehnt lässig an seinem – natürlich – Motorrad, beobachtet durch seine Ray Ban-Sonnenbrille das Treiben auf der nahen Hauptstraße und vermittelt uns lebhaft das Klischee des typischen Ami-Cops. Sturgis weiß, wie es sich zu inszenieren hat, wenn die Rocker-Scharen einfallen. Wir sprechen den Gesetzeshüter an. Er erzählt uns, dass er gar nicht von hier kommt, extra aus einem benachbarten Bundesstaat hierher gerufen wurde. Dass es in der dortigen Polizeistelle eine Ausschreibung gegeben habe, wer denn zur Zeitarbeit ins Motorrad-Mekka reisen dürfe, überrascht uns mehr als die Auskunft, der Ort selbst habe nur fünfzehn Polizisten und sei deshalb auf Hilfe von Außerhalb angewiesen.
Downtown Sturgis. Main Street. Das Zentrum des Unfassbaren. Unzählige Biker. Motorräder, soweit das Auge reicht. Vor uns rollt ein Schlachtschiff eines Zweirades die enge, noch befahrbare Gasse entlang. Auf ihm ein Mann, der mit seinen baumstammbreiten Oberarmen im nachmittäglichen DSF-Unterhaltungsprogramm der späten neunziger Jahre hätte auftreten können. Die Schwarzhaarige hinter ihm kommt mit ihren Armen nicht um seinen massiven Körper. Über die Helmpflicht in Deutschland lacht man hier höchstens müde. Mit einem Grinsen hatte der Polizist uns vorhin gefragt: „So etwas gibt es bei euch?“ Mit Vollendung des 18. Lebensjahres muss in South Dakota zum Schutz der Augen lediglich eine Brille getragen werden, will man – und ja: man will – auf den Helm verzichten. Aus den unzähligen kleinen Shops am Straßenrand schallt eine Mixtur aus Guns n‘ Stones. Das riesige über die Straße gespannte Banner verkündet die siebzigste Auflage der Prozession. Der stete Geruch von Bier, der langsam meine Schleimhäute zu zersetzen scheint wird lediglich von feinen Schweißnoten attackiert, wenn sich gerade wieder einmal einer der Harley-Jünger ohne Anstalten der Kurskorrektur an uns vorbeigeschoben hatte. Wir haben schnell begriffen, mit welch rasanter Einfachheit viele dieser Herren dazu neigen, sich den Weg mit Fäusten freizukämpfen. Wer sich vor den nahenden Bordsteinsherriffs wegducken kann, ist klar im Vorteil. Mit eiserner, beinahe tranceartiger Aggressivität im Blick starrt jeder Passant den nächsten nieder. Könnten sie hier Mundharmonika spielen, das Lied vom Tod wäre ein Chartbreaker.
Die heimliche Nationalhymne
Abends, wenn im Schatten der städtischen Lichter in der Dunkelheit an einem Hang angelehnt an das berühmte Vorbild in den Hügeln von Los Angeles nur noch der Schriftzug STURGIS ausgeleuchtet ist, beginnt an dessen Fuße die zweite Etappe der Rallye. Und die führt die Teilnehmer nach ihrem Ausflug zum präsidialen vierköpfigen amerikanischen Nationalstolz am Mount Rushmore nun in die Bars und Kneipen des Örtchens. Die restlichen gut 550.000 Biker, die sich nicht mehr an den Türstehern vorbei in die vor Gejohle erzitternden überfüllten Schänken zwängen konnten, machen sich im Bruchteil in einem Anflug von Redlichkeit auf zur Nächtigung auf einem der mehr oder weniger naheliegenden Campingplätze der Umgebung oder aber verlegen im Gros die Festivitäten kurzerhand dorthin, wo schon am Tage der Wahnsinn re(a)gierte: Auf die Straße. Was in jenem Vorgarten nachmittags verhältnismäßig leise begann, wird nun bis zum Anschlag aufgerissen. „Born to be Wild“ schreien uns die Lautsprecher an. Wer noch stehen kann, bewegt seinen voluminösen Körper mehr oder weniger rhythmisch zum eingängigen Gitarrensound. Steht und fällt in den Südstaaten jede Festivität mit der Präsenz von Lynard Skynards heimlicher Nationalhymne „Sweet Home Alabama“ haben Steppenwolf den Soundtrack für Sturgis komponiert. Hier ist es der Soundtrack ihres Lebens.
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