Mittwoch, 18. Mai 2011

Die Suche nach dem Schweinehund


Durch die Luft zieht einsam ein Adler. Ich schaue hinauf zu diesem königlichen Geschöpf, muss meinen Blick nur Zehntelsekunden später wieder abwenden. Zu grell fällt das Sonnenlicht in mein Auge. Die schnellen Kopfbewegungen überfordern den strapazierten Kreislauf, schummrig unterbreche ich den strammen Schritt, der mich seit mehr als acht Stunden auf dem Bright Angel Trail trägt. Als sich der unter Strapazen ächzender Körper kurzzeitig erholt, kann ich mich noch einmal umdrehen und den Blick schweifen lassen. Ganz weit dahin liegt der Plateau Point, wo wir noch vor einigen Stunden standen. Mitten im Grand Canyon.

Es ist Hochsommer. Hochsommer am frühen Nachmittag. Hochsommer in Arizona. Die Luft im Grand Canyon National Park flimmert. Wer das Geschenk eines Tages unkomprimierter Canyon-Erfahrung in den frühen Morgenstunden annahm, bezahlt es nun mit Schweiß, treibt seinen Körper an die Grenzen des Ertragbaren. Der Zeiger des Thermometers bedeutet staubverhangen Temperaturen von über 50 Grad. Der aufgewirbelte Dunst des Pfades trocknet den Schweiß auf unseren Beinen, ehe dieser von neuem zu fließen beginnt. Der Kreislauf der Erschöpfung.

Erst runter, dann rauf

Vom „South Rim“, dem südlichen Rand des Canyons, fällt der Trail sechs Meilen, bis er den Plateau Point erreicht. Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen dieses Kronjuwel der amerikanischen Nationalparks in eine orange-rote Morgenmelange tränkten, hatten wir uns auf den Weg gemacht. Der Tücke, die uns die nächsten Stunden begleiten sollte, waren wir uns bewusst. Zumindest in der Theorie. Immerhin hatten uns doch dieselben Warnschilder, die vor Lebensgefahr durch Hitzschlag oder körperlicher Überanstrengung gewarnt hatten, auch darauf hingewiesen. Der Trail wird erst sechs Meilen dahingleiten, ehe man den gleichen Weg in der Mittagssonne wieder zu erklimmen hätte.

Keine zwei Stunden brauchte es, da hatten wir den Plateau Point erreicht. In der morgendlichen Dämmerung waren wir den Trail geradezu hinunter geflogen. In unserer Eile – der Kühle wegen – versuchten wir zu vermeiden, der atemberaubenden Szenerie um uns herum im Verweilen zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Die Schilder hatten uns ja gewarnt. Wir mussten doch noch wieder hoch. Da bliebe dann mehr als genug Zeit für den vollen Genuss des Canyons. Sich dem Spektakel allerdings komplett zu verschließen ist gleichermaßen töricht wie unmöglich. Schon beim ersten Schritt auf den Pfad wird man ergriffen von der Magie, die in diesem Wunder der Natur mitschwingt. Die Nacht versucht mit letzter Kraft, die ungeheure Weite zu verschleiern. Mehr und mehr gewinnt das Tageslicht den Kampf gegen die Dunkelheit.

Reise durch die Erdgeschichte

Es ist still. Völlig still. Nur unsere schnellen Schritte hinab in den Canyon sind hörbar. Die verschollen geglaubten Töne der Hektik wirken gleichermaßen bedrückend und befreiend. Der Blick klebt für einige Sekunden auf dem anvisierten Ziel, dem Plateau mitten in diesem scheinbar unendlichen Loch in der Erdoberfläche. Dann gerät er doch wieder notgedrungen ins Schweifen. Der Abstieg in rund tausend Meter tiefer gelegene Gefilde gleicht einer Reise durch die Erdgeschichte. Die Farben des Gesteins der Felsen scheinen sich auf jedem Zentimeter in Nuancen zu verändern. Als der Blick auf halbem Weg über die Schulter fällt, wird klar, in welch facettenreichen Farbkontrasten sich die einzelnen Gesteinsschichten voneinander abzugrenzen versuchen.

Noch immer ist es still. Das Rascheln der Eichhörnchen im Gebüsch, das Zetern einiger Krähen ob dem nahenden Ende der Kühle der Nacht waren lange die einzigen Geräusche, die uns vor dem Irrglauben bewahrten, die einzigen Lebewesen hier zu sein. Immer flacher wird das Areal nun, immer näher rückt das Ziel. Inzwischen hat die Sonne die Dunkelheit verdrängt, Wolken haben am endlos blauen Himmel keine Chance.

Die blitzschnellen Bewegungen am Wegrand lassen sich zuerst nur schwer zuordnen. Erst ein zwei- und dreifaches Hinsehen entlarvt den Störenfried. Eine Klapperschlange präferiert angesichts unserer kleinen Wandergruppe den gebührenden Abstand. Es soll uns recht sein. Die immer dünner werdende Vegetation kommt einem sich öffnenden Vorhang gleich. Die letzten Meter auf dem Weg zu unserem Ziel sind der demütige Gang auf die große Bühne der Natur. Wahllos kreisen möchte man hier auf dem Plateau Point. Das Auge scheitert ohne den Hauch einer Chance, die Details dieses 360°-Panoramas zu registrieren. Die endlose Weite erschlägt den zum Zwerg geschrumpften Menschen.

Der lange Weg zurück

Ein langer Weg zurück liegt vor uns. Die zahllosen Serpentinen verschwimmen im Größenwahn des Canyons. Noch vor zwei Stunden ließ sich die feuchte Morgenluft besser atmen als die nun einsetzende Trockenheit. Vier Liter Trinkwasser, dazu salzhaltige und kalorienhaltige Snacks bereiten den Körper auf die Anstrengungen vor, denen er sich gleich würde stellen müssen. Unter dem Plateau rauscht noch einmal viele hundert Meter tiefer der Colorado River durch den Canyon. Wer bis zu seinen Wassern vordringen will, muss vorher bei der Parkverwaltung ein „permit“ – eine Erlaubnis – erfragen. Den kompletten Auf- und Abstieg an einem Tag zu bezwingen ist nicht nur lebensgefährlich, sondern ob der enormen Anstrengungen auch verboten.

Der kräftezehrende Weg zurück lässt uns spüren, warum. Immer heißer wird es, immer verzweifelter und in kürzeren Abständen erfolgt der Griff zur Wasserflasche. Es ist auch der Reiz der Anstrengung, der Überwindung des inneren Schweinehundes, der diese Herausforderung unvergesslich macht. Mehr als acht Stunden sind wir inzwischen unterwegs. Das Ziel versteckt sich weiter hinter zahllosen Serpentinen, die wir uns hinauf schleppen. Immer wieder drohen die Kräfte zu versagen. Das beste Mittel dagegen ist längst gefunden. Das stille Verweilen an einem der faszinierendsten Orte, den das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu bieten hat. Seine Ewigkeit wiegt jeden individuellen Kampf durch reine Ästhetik auf.

Sonntag, 20. März 2011

Zwischen Marlboro und Medizinmann


Wir sind noch nicht ganz im Tal, da verklebt der feinkörnige rote Staub bereits mit unseren unter stechender Sonne ächzenden Körpern. Einmal die große Schiebetür unseres weißen Vans geöffnet, schon ist der Kampf verloren. Roter Dunst überall. Die Luft flimmert, ist so trocken wie jeder Zentimeter knorriger Erde hier.

Kerzengerade führt die Interstate 163 auf diesem Stück durch das Grenzgebiet Utahs und Arizonas. Am Horizont türmen sich die bizarren Felsformationen des Monument Valley auf. Jene Säulen der Geo-Historie, die das Tal so einmalig charakterisieren. Die großen Mesas erinnern an ihren ausgewanderten Bruder Down under: Den Ayers Rock Australiens. Wie wir so auf sie zufahren, wirken sie einladend wie die Skyline einer Großstadt. Schon jetzt ist ihre bloße Erscheinung atemberaubend. Noch aber sehen wir sie nur aus der Ferne. Wir wiederstehen dem Trieb, das Gaspedal zu malträtieren, verschließen die Ohren vorerst vor dem Rufen dieser roten Giganten.

Ein weiterer Meilenstein


Am Rand des Weges ragt ein Schild aus dem roten Grund. Es ist der einzig grüne Farbklecks im scheinbar ewigen Rot. Die Büsche am Wegesrand haben ihren Lebensmut schon lange verloren, haben kapituliert vor dem existenzfressenden Wüstenklima. Sie vermitteln eine Tristesse, die dem Blick an den Horizont nicht standhält. Meine Augen treffen den Wegweiser. Es ist nicht mehr als ein weiterer Meilenstein, ganz im entmythisierten Sinne des Wortes. Dreizehn, sagt es schlicht. Und hat damit seinen extraordinären Nimbus gefunden. Diese dreizehn beschwört einmal nicht die bösen Götter herauf. Nein. Hier, wo wir nun unseren Wagen an den Straßenrand stellen, wurde großes Kino gemacht. Hier, nirgendwo im irgendwo, vor den Toren des Monument Valleys. Genau hier beendete Tom Hanks in seiner vielfach oscarprämierten Interpretation des Forrest Gump seinen Lauf quer durch das Land.

In der zehrenden Sonne verzichten wir darauf, es diesem zweidimensionalen Helden der Leinwand gleichzutun und lassen die Laufschuhe eng verschnürt im brütend heißen Kofferraum. Der Blick hinunter ins Tal und der Blick über die Schulter schweifen beidseitig in schier ewiger Länge. Die wenigen Autos, die diese Straße heute befahren, fallen schon Minuten, bevor sie im Angesicht der Kulisse andächtig vorbeischleichen, ins Blickfeld. Ein Picknick auf der Straße wäre ohne weiteres möglich, scheitert letztlich am Hitzegrad. Der matte Asphalt wehrt sich mit letzter Kraft gegen sein Schmelzen. Wir fühlen uns seltsam willkommen in dieser lebensfeindlichen Galerie der Natur.

Auf Holzbänken durchs Tal

Willie begrüßt uns wortkarg, aber mit Wärme und bedachter Freundlichkeit in der Stimme. Der Hitze zum Trotz trägt er verstaubte Jeans, ein aufgetragenes Hemd und zum Schutz vor dem gleißenden Sonnenlicht einen Cowboyhut. Dieser pointiert die Ironie, die in Willies Erscheinungsbild steckt. Denn Willie ist Navajo Indianer. Er steht vor einem alten Truck, der zur motorisierten Touristenkutsche umgemodelt wurde. Drei Reihen Holzbänke sind auf seiner Ladefläche montiert, überspannt von einem Sonnendach. Willie bietet Touren durchs Tal an. Touren, die Verständnis bringen sollen von der Magie und Historie dieses jahrelangen Lebensraumes der Indianer. Und Geld. Heute sind es nicht mehr viele Navajos, die hier noch wohnen und den (hoffnungslosen) Kampf um Werte und Traditionen weiterführen. Willie wird uns später erzählen, dass auch er in der Stadt wohnt, jeden Morgen mit seinem Wagen hierhergefahren kommt. Aber ja, er fühle sich als Navajo Indianer, sagt er. Manitu blutet das Herz. Unter meine Neugier mischt sich ein anderes Gefühl. Trauer. Willie lacht viel während der Fahrt. Er hat gelernt, mit diesem Leben umzugehen. Lache, wenn’s zum Weinen nicht reicht.

Totgefilmt von einer ganzen Armada von Western-Regisseuren ist das Valley der ewig projizierte Schauplatz des Lebens. Des Wirkens der Indianer und des westwärtigen Strebens der Siedler in ihrer „neuen Welt“. Dass sich hier einmal tatsächlich das Blut der Indianer mit dem ewigen Staub vermischte, ist für die Produzenten höchstens eine historische Randnotiz, die den Film noch greifbarer machen könnte. Das uramerikanische Flair, das mit dem Sand durch die ewige Weite weht, wurde auch von der Werbeindustrie missbraucht. Welcher Ort wäre besser geeignet, einen Marlboro-Zigaretten qualmenden Kostüm-Cowboy auf einen dieser steil aus dem Boden ragenden Felsen zu drapieren, um die Freiheit im Zeichen des Glimmstängels zu simulieren? Respekt vor den Navajo, für die die Mesa-Felsen heilig sind, darf da nicht erwartet werden. Höchstbietend entweiht für die beste Kameraeinstellung.

Fotos und Zigaretten


Willie stoppt den Wagen für ein paar Fotomöglichkeiten. Er zieht eine Marlboro-Schachtel aus der Tasche, steckt sich die Zigarette genüsslich an. Mein Dilemma ist perfekt. Inzwischen sind wir tief im Tal. Das Klicken der Kameras bleibt der verzweifelte Versuch, die ungreifbare Stimmung, die zwischen den Felsformationen flackert und Geist und Seele durchdringt, fotografisch festzuhalten. Müßig die Erwähnung unseres grandiosen Scheiterns.

Mal liefert sich Willie eine motorisierte Hatz mit irgendwem, lässt die Pferdestärken aufheulen, als wir durch die ausgefahrenen Wege brettern. Immer wieder kommen wir aber auch zu einem abrupten Halt, der uns den Hintermann regelmäßig näher als erhofft bringt. Willie erzählt, wie die Navajos hier im Valley leben. Oder was von der Definition des „Lebens“ noch übrig geblieben ist. Denn von den Hymnen, wie früher einmal alles war, könnte dieses simple Existieren kaum weiter entfernt sein.

Der Navajo macht uns immer wieder auf Besonderheiten in den Felsen aufmerksam. Der Adler, den die erodierten Wände darstellen, müssen wir länger suchen als einen seltsamen Spalt in der roten Wand, der einem Auge ähnelt. Langsam senkt sich die Sonne. Nun entfalten diese seltsamen Stein-Auswüchse rot glühend ihren ganzen Reiz. Der Mensch gibt sich ohnmächtig hin im Balzen der Natur. Der Fels schimmert in einem ungeahnten rot, während der Himmel langsam vom Blauen ins Orange taumelt und das Farbspiel komplettiert. Ein letztes Mal hält Willie den Wagen an, bedeutet uns, auszusteigen und uns an die Felswand zu lehnen, die Augen zu schließen. Er gesellt sich zu uns, seine traditionelle Flöte in der Hand. Schon die ersten Töne entreißen den Boden unter den Füßen. Man träumt dahin. Die Musik stoppt für einen kurzen Augenblick, plötzlich erfüllt die brüchige Stimme des Indianers ohne jegliches Hilfsmittel die Umgebung. Worum es in dem Lied geht, verstehen wir nicht. Wir können es nicht verstehen, scheitern an viel Existenziellerem als lediglich der Sprachbarriere. Kein Bleichgesicht hört genau genug hin, wenn der Indianer von der Natur erzählt. Und doch ziehen uns die Melodien in ihren Bann. Noch viel später in dieser Nacht habe ich sie im Ohr. Die tongewordene Symbiose zwischen Mensch und Natur.

Kein-Stern-Pension als purer Luxus

Als die Räder durchdrehen und hinter uns der Staub noch wilder aufwirbelt, beginnt Willie, das Vehikel in Richtung Navajo-Dorf zu steuern. Wir stecken tiefer im Tal, als es den meisten Touristen erlaubt wäre. Die Gesellschaft der Navajos funktioniert als Einladung. Es ist ein Geben und Nehmen. Für die Indianer ist diese Art des Tourismus lebenserhaltend, für den Besucher ist sie schlicht einzigartig. Wir stehen vor unserer Pension, einem großen, kreisrunden Lehm-Iglu, genannt Hogan, die traditionelle Behausung der Navajos. Selbst, wer sich noch am Nachmittag ängstlich um Komfort gesorgt hatte, entspannte nun seine Gesichtszüge. Auch das Gewohnheitstier Mensch hat seine Momente. Plötzlich zählen andere Werte. Anpassungsfähigkeit und Wertschätzung der Gastfreundlichkeit zum Beispiel. Das schlichte Leben als Inspiration.

Inzwischen hat es auch die letzten Strahlen goldenes Sonnenlicht dahingerafft und Dunkelheit legt sich über die Monumente. Zum ersten Mal sind ihre Kontraste unscharf. Und trotzdem. Abermillionen von Sternen malen den Weg in den immer noch warmen Sand. Im Lagerfeuer knistert das trockene Holz. Wieder und wieder stoben die Funken auseinander und tänzeln einige Sekunden gen Nachthimmel. Selten fühlte man sich verstoßener aus der eigenen Welt. Selten fühlte man sich besser.

Im Lichtkegel des Feuers tritt eine Gestalt an die Flammen heran. Willie raunt uns zu, dies sei der Medizinmann des Stammes. Der Respekt in seiner Stimme nötigt mir Anerkennung ab. Das Auftreten dieses Weisen ist majestätisch, ohne die eigene Größe zu überschätzen. Wie der Medizinmann zu tanzen beginnt, verliert er ohnehin jeglichen Kontakt zu irdischem Geschehen, so scheint es. Ich sitze bedächtig im roten Sand und fühlte mich wohl nie vollkommener.

Dienstag, 1. März 2011

Gefangen im Wilden Westen


Das alte Holz der Veranda knarrt, zweimal hört man das metallene Klacken der Sporen. Tick, Tack. Dann bleibt der Mann stehen. Hinter ihm schwingt die Flügeltür zum Saloon zurück. Direkt an der Kante der zwei Stufen bis zum Staub steht er. Man schaut langsam an ihm hoch – vom kunstvoll prägnanten Stiefelwerk himmelwärts entlang der braunen Lederhose, die vom lässig weiten Gürtel gesäumt wird. An seiner rechten Hüfte baumelt im Halfter der Colt. Das weit aufgeknöpfte Hemd steckt in der Hose, wird von der ledernen Weste optisch abgedämpft. Auch das Halstuch kann die braungebrannte Brust unter dem Hemd nicht vollends verbergen. Man erkennt ein kleines hölzernes Kreuz an einem Stück Kordel. Weit ins Gesicht gezogen thront der Cowboyhut auf dieser nostalgischen Erscheinung. Unrasiert und betont grimmig dreinschauend tritt der Mann die Stufen herunter. Drei Schritte. Tick, Tack, Tick. Der aufgewirbelte Staub vom knochentrockenen Boden wird von einer leichten Brise davon getragen. Kein Mensch sagt ein Wort, zu imposant kommt dieser Kanonenheld daher.

Die Fassade beginnt zu bröckeln

Plötzlich lacht einer. Ein zweiter. Der Mann kann die eben noch wie in Stein gemeißelte ernste Mimik einfach nicht mehr halten, muss grinsen. Das „Howdy“, das er in einem ungewollten Anflug von Heiterkeit herauspresst, lässt die Tarnung auffliegen. Cowboys mit britischem Akzent sind in South Dakota nicht besonders breit gestreut. Andy kann seine englische Herkunft nicht verbergen, trotz perfekten Auftretens ist die Blase geplatzt. Ich muss nun so sehr lachen, dass mir in meiner Unachtsamkeit eine Windböe den eigenen Hut vom Kopf reißt. Mein Erscheinungsbild unterscheidet sich nur marginal von dem dieses entblößten Outlaws. Schaut man die hölzernen Häuser herunter, prägen noch mehr dieser Karl May’schen Relikte die Wild Western-Szenerie.

Nicht umsonst heißt dieses ur-amerikanische Fleckchen 1880-Town. Die Besitzer, ein in die Jahre gekommenes Ehepaar, lächeln jeden der noch an zehn Fingern abzählbaren Besucher an diesem warmen Morgen Anfang August freundlich an. Sie selbst tragen traditionelle Cowboy-Trachten. Kommt sie als ehrbare Mistress daher, steckt er selbst bis knapp unter den Kniekehlen in fein gearbeiteten Lederboots. Neun Dollar tauschen die Autos auf dem Parkplatz vor dem als Museum, Gift-Shop und Eingang fungierenden Holzverschlag gegen hölzerne Kutschen, Saloons und sonstige Bestandteile einer waschechten Western-Stadt. Eine einmalige Zeitreise beginnt.

Ein Sack Kiesel

Das Schild, das leise im Wind schwingend in abblätternder Farbe „Sheriff“ warnt, ist das letzte Detail, das ich wahrnehmen kann, ehe das Schloss klickt und ich hinter Gittern lande. Auch nach 130 Jahren darf man noch nicht wild den Colt schwingend und das Halstuch über Mund und Nase gezogen in eine Bank spazieren und den dort lagernden Goldsack entwenden. Der ist zwar nur mit Kieselsteinen gefüllt – es geht ums Prinzip. Der Streit um die Beute eskalierte vor der Tür zwischen zwei ehemaligen Komplizen. Plötzlich ist Andy nicht mehr auf meiner Seite, will sich mit dem Säckchen Reichtum alleine aus dem Staub machen. Wir stehen uns in dreißig Fuß Entfernung gegenüber, die Hand nur Zentimeter über dem locker sitzenden Schießeisen schwebend. Wir sind bereit, den schneller Ziehenden mit einem erbärmlichen Rest Ruhm und dem Goldsack entkommen zu lassen, während sein Gegenüber tödlich getroffen mit dem Gesicht im Staub auf die Geier warten wird. Da kommt der Sheriff um die Ecke, plötzlich und unerwartet. Die wilde Schießerei kostet mehrere seiner Männer das Leben, schließlich sind wir aber doch umstellt. Statt bei einer Runde Poker und Feuerwasser im Saloon fröhlich die Beute zu verschleudern droht uns nun der Galgen. Immerhin waren auf unsere Köpfe 10.000 Dollar Belohnung ausgesetzt. Diese spart der Sheriff nun, da er uns selber quasi vor der eigenen Haustür zur Strecke gebracht hat.

Die schwere Eisentür ist hinter uns ins Schloss gefallen. Jason in seiner Gesetzeshüter-Tracht lacht draußen triumphierend, während Andy und ich uns einen kurzen, erbitterten Kampf um die enge, ungemütliche Holzpritsche liefern. Wir werden nicht lange einsitzen, werden dem Galgen entkommen. Denn der Sheriff ist eigentlich auf unserer Seite.

Besuch von Kevin Costner


Noch einmal fünf Dollar – fünf läppische Dollar – zahlt man in 1880-Town, um aus einem scheinbar unerschöpflichen Fundus von Cowboy-Gewändern die passende Verkleidung auszusuchen. Sweatshirt und Jeans sind schnell achtlos in die Ecke geworfen und gegen Stiefel, lederne Hose und weites Hemd getauscht. Der Wettlauf um die beste John Wayne-Kopie ist längst entbrannt. Dass es die Besitzer dieses Freiluft-Museums mit ihrer Sache ernst meinen ist die eigentliche Ironie dieses Ausfluges in kindliche Traumwelten. Plötzlich werden längst vergangen geglaubte Geburtstags-Mottopartys trügerische Beinahe-Realität. So greifbar, dass selbst die Traumfabrik aus Hollywood mitten in der Prärie South Dakotas Halt machte, um Teile seines Erfolgsstreifens „Der mit dem Wolf tanzt“ hier zu drehen.

Der junge Kevin Costner ist nur einer der wenigen Besucher, die die stolzen Besitzer in den letzten mehr als dreißig Jahren begrüßen konnten. Heute Morgen sind wir es, die sich in den dreißig altgediegenen Western-Stätten mit ihren unzähligen Repliken in unseren Fantasien verlieren. Amerikana nennt man die auf US-Traditionen aufbauenden kulturellen Erscheinungen wie diese Cowboy-Stadt, die sich hier im ehemaligen „Wilden Westen“ ballen. Dort, wo früher die Sioux-Indianer durch die Prärie ritten, hat lange nach den ersten Siedlern freilich die Moderne Einzug gehalten und lässt den magischen Ort 1880-Town deshalb nur noch unwirklicher daherkommen.

Die Zeit drängt

Anderthalb Stunden haben wir uns als maximales Zeitfenster für diesen Stop gesetzt. Zu lang ist die Strecke, die wir noch zurücklegen wollen auf unserem Weg ins ferne Chicago. Neunzig Minuten flogen auch vor 130 Jahren noch nur so dahin, verbringt man sie damit, den Akku der Digitalkamera auf Äußerste zu strapazieren. Der Fotoapparat passt nicht in diesen Ort, in dem Verbrechen noch mit der Schlinge um den Hals oder in Teer und Federn endeten. Und doch können wir nicht auf ihn verzichten. In ein paar Augenblicken werden wir dort vorne wieder durch den Giftshop hinaus zu unserem Auto gehen. Wenn die Flügeltür dann zurückschwingt, sind wir wieder da im Hier und Jetzt. Dann ergänzen und erfrischen die Fotografien unsere Erinnerungen an einen Ort, in dem wohl jede Western-Legende schon mindestens ein Dutzend Male spielend nachempfunden wurde. Und was dann bleibt, sind die glänzenden Augen und das Lächeln eines kleinen Jungen an seinem sechsten Geburtstag.

Mittwoch, 23. Februar 2011

Das Ende aller Träume


Auch bei mehrfachem Hinschauen wird die Farbe nicht klar. Alles Blinzeln hilft nichts. Als die Sonne über dem Yosemite Valley untergeht, rattert der menschliche Atem stockend dahin: Magisch zieht die unbeschreibliche Farbpalette, in der das Tal erstrahlt, die Besucher in ihren Bann. Auf knapp eintausend Metern, am Glacier Point, tummeln sich die Touristen. Hier am populärsten Punkt des Yosemite National Park. Der Blick über nur fünf Prozent jenes 3100 Quadratkilometermeter gewaltigen Protzes der Natur und seiner Gipfel, die über den westlichen Hängen der kalifornischen Sierra Nevada thronen, ist einhundertprozentiges, pures und reines Vergnügen. Das Kommen und Gehen der Gletscher hat diesen Teil des Parks im Laufe der Jahrzehntausende zu einem Monument der Zeitgeschichte geformt.

Vom Glacier Point fällt der Blick geradewegs auf die steilen Wände der Kolosse Half Dome und El Capitan. Letztgenannter ist auf tausend vertikalen Metern das Mekka der alpinen Kletter-Fanatiker. Wer es mit „El Cap“ aufnimmt, schnürt nicht nur seine Schuhe. Wer hier seinen Wahnsinn verewigen will, übergibt sich freimütig in die wählerischen Hände der Natur. Nur die Besten schaffen diesen Aufstieg – El Capitans Mythos machte ihn zu einem der populärsten Alpin-Spots der Staaten. Sein Bruder, der mächtige Half Dome-Fels, raubt dem staunenden Besucher nicht weniger das Fassungsvermögen. 2.693 Meter über dem Meeresspiegel ragt er stolz über dem zu seinen Füßen schlummernden Schönen, bildet steinern das Dach dieses Auswuchses geologischer Erotik.

Eine surreale Darbietung

Es sind die letzten sonnendurch-fluteten Minuten dieses Julitages. Selbst jene Burberry- und Lacoste-gewandeten Fremdkörper, die sich zur Erfüllung ihres (hoheits-) gesellschaftlichen Anspruches in die Sammlung staunender Jünger purer Ästhetik verirrten, haben die luxuriös verspiegelten Sonnenbrillen von den Gesichtern gezogen. Jeder sehnt die reine Empfängnis der Schönheit des Momentes herbei. Das leise Klicken der Fotokameras verschärft das unterschwellige Gemurmel der Gemeinde am Glacier Point. Man kneift die Augen zusammen und keucht im Angesicht der atemberaubenden Finesse des Farbschauspieles, dass auf den Felsen von Half Dome und El Capitan in fünf Akten dargeboten wird. Ob der Granit nun braun, rot, orange, grau oder weiß in der Abendsonne schimmert, hängt vom Einfallswinkel des Lichtes ab und bindet sich von Quadrat- zu Quadratmeter neu zu einer undefinierbar anziehenden Melange. Während die Schatten des letzten Vorhanges langsam über das Tal fallen und auch der Glacier Point zunehmend verwaist, bleiben wir noch einen Moment sitzen. Zu surreal die Darbietung, um mit der stumpfen, motorisierten Rückkehr ins Nachtlager den Schauspielern ungenügend gerecht zu werden. Ein vorerst letztes Mal ergötzen wir uns an diesem Gigantentum, ehe die Sonne hinter den Gipfeln verschwindet.

In der morgendlichen Herrgottsfrüh reißt uns das lodernde Feuer der Begeisterung aus den wirren Träumen von in Stein gemeißelten Königen. Drüben am El Cap sieht man auf halber Strecke schwache Quellen des Lichts baumeln – der Angriff auf den unbezwingbaren Riesen geht in die zweite Runde. Gerade einmal halb fünf kann es sein, verrät uns das unsägliche Piepen des Weckers, das uns unser knisterndes Feuer erst spüren lässt. Ein weiterer Tag im Paradies.

Die Königsetappe auf dem John Muir-Trail

Ein Paradies, das wir in den kommenden Stunden immer wieder respektvoll verfluchen werden. Immerhin setzen wir heute zum – so unsere Berechnung – etwa zwölfstündigen Himmelssturm an. Denn anders als der Kapitän ist Half Dome auch für wagemutige Wanderer zu bezwingen. Diesem Ziel, dieser Königsetappe der über eintausend Kilometer Wanderwege im Yosemite, haben wir uns verschrieben. Der Geologe John Muir, geistiger Vater des Parks, gab dem Pfad seinen Namen. Er adelte Yosemite ehrfürchtig „the incomparable valley“ – das unvergleichliche Tal. Der gute Kilometer Höhenunterschied auf den insgesamt knapp 16 Meilen unserer Wegstrecke verleiht dem Wahnsinn, dem wir uns nun stellen, numerischen Ausdruck.

Schon früh beginnen die Waden zu brennen. Im Schatten der noch dichten Vegetation füllt die vielleicht noch nie so frisch dahergekommene Morgenluft unsere Lungen. Doping powered by Mutter Natur. Zwar können wir den Heerscharen dicklicher Touristen, die sich später in den unteren Regionen dieser Wanderpfade den Schweiß von der Stirn wischen werden, entfliehen, allein auf dem Weg nach oben sind wir allerdings keinesfalls. Vögel kündigen mal krächzend, mal klangvoll jubilierend unsichtbar in den Baumkronen versteckt noch den neuen Tag an, da sind Eichhörnchen und Rehe im Unterholz schon längst dabei, den Frühstückstisch zu decken. Rechts neben uns erhebt sich das Tal immer steiler gen Himmel, links des Weges stürzt ein Wasserfall im Sonnenlichte schillernd tosend in die Tiefe. Gleich neun dieser donnernden Ungeheuer gibt es in dem gerade einmal dreizehn Kilometer langen Tal, fünf von ihnen über 300 Meter tief. Ihr Regent: Die Yosemite Falls, die siebenhundertvierzig lange Meter im Sog der Schwerkraft gen erbarmungslosem Fels fallen.

Ein allzu zugänglicher Garten Eden

Durch die endlich etwas lichteren Bäume schillert uns ein kristallklarer Regenbogen entgegen, er wirkt wie ein Wegweiser Richtung Himmelspforte. Inzwischen ist es schon beinahe Mittag, die Sonne strahlt von ihrem höchsten Punkt. Sie ist Frust und Segen zugleich. Knapp dreißig Grad und die extremen körperlichen Anstrengungen zehren an Physis und Geist, während dieser allzu zugängliche Garten Eden im Licht funkelt. Auf den zahllosen Bächen und Rinnserln, die hier noch nichtsahnend gemütlich dahinfließen, jagen die Wasserläufer einander nach. Das Flussgras schmiegt sich sanft an die seichte Brise. Die Luft ist erfüllt von der Geräuschkulisse der ungemeinen Artenvielfalt des Lebens. Wir verdanken es unserem frühen Aufbruch, dass nur sehr selten andere Menschen unsere Rast stören, während wir auf dem Gefühlshoch dahinschwelgen. Die Spuren profilöser Stiefel im Sande des Weges sind – gerade ist ein uns entgegenkommender Wanderer aus unserem Sichtfeld entschwunden – der einzige Hinweis darauf, dass neben Adam und Eva noch weiteres intelligentes Leben auf den paradiesischen Pfaden dieser Vollkommenheit wandeln muss.

Will man den circus maximus der Natur in seiner ganzen Schönheit erleben, muss man im Angesicht des steten, postkartenfüllenden Gigantismus waghalsige Liebe für das Detail entwickeln.
Erklärungen, warum die Region schon 1890 zum Nationalpark erkoren wurde, liefern El Capitan und sein Gefolge unentwegt. Schon die ersten Siedler schwärmten von der Gegend, auch sie zog Yosemite in seinen Bann. Wer einmal hier war, den wird die charmante Mixtur von Extremen und manchmal schlicht daherkommender Schönheit auf dem weiteren Lebensweg stets treu begleiten. Die Bilder von sommergrünen Wiesen, kristallklaren Bächen und den riesigen Sequoia-Trees (mit bis zu zehn Metern Durchmesser sind diese manchmal gar einhundert Metern hohen, sechstausend Tonnen schweren Mammutbäume die größten Lebewesen der Welt) speisen die menschliche Seele unweigerlich mit faszinierender Lebensfreude.

Welcome to Bear Country


Die Luft wird merklich dünner. Wir nähern uns dem Gipfelsturm. Noch aber geht es nach lichten Ebenenwanderungen immer wieder durch schattiges Waldgebiet auf stetig steilen Trassen hinauf. Die konsequente Abgeschiedenheit lädt immer mehr Säuger ein, neuen Lebensraum zu besiedeln. Kaum fünf Minuten verstreichen, ohne dass uns ein frecher Nager beinahe vorwurfsvoll und ohne viel Scheu mit stummen Blicken auffordert, endlich nahrhafte Kost – „gern auch eure Erdnüsse, wenn ich bitten darf“ - fallen zu lassen. Das Schlaraffenland macht faul. Der Parkverwaltung verursacht die freiwillige und unfreiwillige Spendierfreundlichkeit ihrer Besucher Probleme. Während hier oben eine – wohl nicht ganz unabsichtlich – fallen gelassene Nuss den sprichwörtlichen Kohl nicht fett macht, sind die Camper im Tal strikt angewiesen, sämtliche Lebensmittel in extra aufgestellten Futtercontainern einzuschließen.

Yosemite ist Bear-Country. Die von weitem so tapsig daherkommenden Schwarz- und Braunbären rücken dem Menschen auf ihrer Nahrungssuche bisweilen gefährlich dicht auf den Leib. Selbst Zahnpasta lockt Knut und Co. – die rostigen Nahrungsmittelsafes erfüllen ihren Sicherheitsdienst. Selbst in verschlossenen Automobilen verstautes Essen stoppt die Bären nicht zwangsläufig. Während Schwarz- und Braunbären weiter durch die unendlichen Wälder streifen, sucht man die Könige ihrer Art seit mehr als einem Jahrhundert vergebens. O-ham-i-tee nannten die Indianer den Grizzlybär, dessen letzter Vertreter hier schon 1895 erlegt wurde. Trotz des idealen Lebensraumes ist auch die Verbreitung ihrer Nachfolger im Yosemite eingeschränkt. Nicht viele Besucher haben das Glück, eines der majestätischen Tiere aus sicherer Entfernung bestaunen zu dürfen. Wir erspähen in zwei Tagen gleich sieben. Welch königliches Hochgefühl.

L’Alp d‘Huez

Plötzlich und ohne Vorwarnung tut sich vor uns ein kahles Monstrum auf. Die Rückseite des Half Dome stoppt überwältigend die Wanderslust. Noch immer haben wir einhundertzwanzig Höhenmeter zu beschreiten, der Wanderbegriff verfällt mit dieser Schwelle der Bedeutungslosigkeit. Im 45 Grad-Winkel geht es an in den glatten Fels gelassenen Stahlketten auf unser persönliches Alp d’Huez. Einzig einige abgenutzte Arbeitshandschuhe für den besseren Griff vegetieren zu unseren Füßen. Meine Courage liegt gleich daneben. Begeistert und mit wackligen Knien zieht mich die mit jedem Schritt zunehmend entweichende Muskelkraft unter Schweiß keuchend auf dem Weg nach oben. Der atemberaubende Blick zur Seite oder gar die Kehrtwende verbieten sich. Ich merke, wie die feuchten Hände in den Handschuhen keinesfalls den Grip verstärken. Noch ein letzter Zug und mein erstes wahrhaftes Bergsteiger-Abenteuer nimmt sein spektakuläres Ende. Denn das, was sich den müden Gliedern und dem ekstatischen Geist nun visuell eröffnet, entzieht der realen Existenz den Boden unter den zittrigen Füßen.

Kein Wort würde jene sagenhafte Schönheit gebührend einfangen, die sich den wagemutigen und wankelmütigen Wahnsinnigen am oberen Ende einer simplen Stahlkette zwischen Euphorie und Ableben offenbart. Der Glacier Point verkümmert zur müden Aussichtsplattform, der erhabene Blick auf das große Ganze potenziert unsere Faszination des Vortages. Während Geist und Seele jubilieren, fällt dem Herzen die Entscheidung zwischen Raserei und erstauntem Stocken unsäglich schwer. Ein Stück Fels lädt freundlich ein, doch ein paar Minuten zu ruhen. Die warme Sommersonne lächelt mir ins Gesicht. Ich fühle mich ihr seltsam nah. Oh Augenblick, verweile doch – du bist so schön! Ich döse leicht. Zu träumen ist hier ohne Sinn.

Samstag, 19. Februar 2011

Highway der Hochgefühle

Das Fenster ist heruntergekurbelt, der Fahrtwind streichelt unsere sonnengebräunten Gesichter. Die Luft schmeckt salzig hier an Amerikas Westküste. Am Morgen haben wir Los Angeles gen Norden verlassen. Jene quadratkilometerfressende Monströsität einer Großstadt, die endlose Touristenschlangen als Tor nach Kalifornien generiert. Wir haben jeden der 3,8 Millionen Stadtmenschen hinter uns gelassen und uns aufgemacht auf einen Weg, dessen Mythos dem Heiligtum Route 66 in kaum etwas nachsteht. Die California State Route 1, oder einfach Highway 1, verbindet auf 655 Meilen den Süden des Bundesstaates mit dessen Norden und führt neben Los Angeles auch durch San Francisco, die zweite, so viel europäischere Weltmetropole in Amerikas Westen. Seinen Beinamen – National Scenic Byway – hat sich dieser etwa tausend Kilometer charmant dahingleitende Pfad entlang der malerischen Pazifikküste wohlverdient. Entlang Stätten der seichten Surf- und Neopopkultur wie Santa Barbara schleicht jedes Vehikel anmutig durch die verworrenen Kurven purer Ästhetik. Urlaub für die Sinne.

Die magisch brechenden Wellen bahnen auf ihrem Weg gen goldglänzenden Sandstrand den Weg ins Surfer-Paradies. Der Blick aus dem Fenster fixiert immer wieder kleine schwarze Punkte in der Gischt, die ihre Bretter waghalsig elegant durch die Wellen manövrieren. Die Szenerie lädt ein in eine andere Welt. Hier wird das Ur-Bild des Immer-Sommer-Immer-Gute-Laune Bundesstaates Kalifornien gezeichnet. Bis auf den einsam und schweigend dahin schwelgenden Highway fehlen in der Fülle von Kontrasten menschliche Schandflecke. Zu weitläufig ist das Areal, als dass die vielen Touristen ernsthaft ins gestalterische Gewicht fielen. Stattdessen zeichnet die Natur hier ein idealistisches Portrait. Mal flach auf den zwischen glitzerndem Meer und Künstenland beinahe unwirklich unscheinbaren Strand zulaufend, mal, wie in der Region Big Sur, atemberaubend steil ins eiskalte Wasser abfallende Hänge – das Paradies ist vielseitig. Erfrischend klein fühlt sich das im Erstaunen stille Individuum Mensch angesichts dieser gewaltigen Natürlichkeit. Nörgler, die für gewöhnlich ihrer alltäglichen Tristesse geschuldet jeden noch so kleinen Makel ins Visier nehmen, verstummen vor der schöpferischen Perfektion, die sich ihnen hier offenbart.

Die Grenze des Begreifbaren

Weniger um Kommunikation verlegen ist eine Gruppe von Seelöwen, die sich im Sonnenbad zur Mittagsstunde damit vergnügt, ihre Nahesten mit dem feinkörnigen Sand zu bewerfen. Ihr munteres Spielchen gepaart mit dem eben so typisch unnachahmlichen Gegröle scheint den paar Menschen, die panisch versuchen, das Ungreifbare fotografisch festzuhalten, jubilierend entgegen zu schleudern: „Seht her und labt euch an der Schönheit unseres Seins, ehe ihr zu dem Irrglauben, die Krone der Schöpfung darzustellen, zurückkehrt.“ Hinter ihnen rollen geduldig die Wellen gen Festland. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sprengt an seinem westlichsten Punkt die Grenzen des Begreifbaren. In starrer Ehrfurcht steht man da und versucht, jede ach so wertvolle Sekunde in Leib, Herz und Seele zu konservieren. Keine technische Errungenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts könnte jemals die ganze Schönheit dieses güldenen Fleckchens Erde einfangen. In der Impressionenfülle stellt der Europäer fest, dass im Land von Ronald McDonald und dem Burger King eben auch die Natur Übergröße hat.

Die Ortsschilder, die wir passieren, singen die Namen der immer so gleich und doch so unterschiedlich reizvoll schönen Küstenstädte nur so daher und geben allen Anlass, im Himmel auf Erden für einen Augenblick träumend die Augen zu schließen. Entzückt lässt man sich entführen in eine andere Welt auf dem Highway der Hochgefühle. Der fesselnde Stress der wirklichen Welt scheint hier noch viel weiter weg als bloß arglistig hinter den grünen Bergkuppen lauernd. Ein Blick genügt, um klar zu machen, warum sich um diesen magischen Ort Legenden ranken, warum der Pleite-Staat Kalifornien für viele immer noch das Nonplusultra der unendlichen Leichtigkeit des Seins ist, dass hier den American Way of Life zu prägen scheint. Aus den Lautsprechern unseres Wagens klingt Leise die Gitarre von Jack Johnson, sie ist akustische Untermalung eines vollkommenen Kunstwerkes.

Das Teilstück verändert uns

Mit einem halben Auge auf der Straße und der restlichen Sehkraft auf der optischen Empfängnis der bizarr daherkommenden Unwirklichkeit fokussiert, fallen die wenigen versteckten Abzweigungen der Straße beinahe nicht auf. Im Fluge der Gefühle surrt der Highway unter unseren Rädern, ein Vier-Takter summte noch nie so leise wie hier. Hier, wo alles so unbeschwert dahingeht. Nicht umsonst hatte uns der verträumte Mann an der Rezeption am Morgen gesagt, dieses Teilstück werde uns verändern. An der Einfahrt zum Julia Pfeiffer Burns State Park stoppen wir unseren sorglosen Ritt auf der Avenue Liberté zum wohl hundertsten Mal an diesem Tage. Der kleine Fußmarsch durch wirres Gebüsch scheucht Vögel in allen erdenklichen Farben auf. Am Horizont, wo der azurblaue Ozean den nicht weniger strahlenden Himmel küsst, wird uns das I-Tüpfelchen der Schönheit langsam zur Last. Dort, wo der Pazifik in der Ferne seine Ruhe zu finden scheint, tanzt ein Wal in den Wellen, beehrt unsere vor Begeisterung verschämten Blicke immer wieder für Bruchteile von Sekunden mit seinem Erscheinen, ehe er sich zurück in die Tiefe seines Königreiches verabschiedet.

Als sich langsam die Schatten der Abenddämmerung über diesen Abschnitt unbeschwerter Freiheit legen und die glutrote Sonne im feuerroten Meer zu verdampfen droht, richte ich jeden Atemzug auf die befriedigende Konservierung des Momentes aus. Dann ruft die Realität.

Mittwoch, 16. Februar 2011

Die mit den Wölfen tanzen


Ein dröhnendes Knattern liegt in der Luft, als unser Van die Interstate 90 gen Osten entlang rollt. Wir rauschen an einem Schild vorbei. Sturgis – Exit 30 – 10 Miles. Das Knattern wird lauter. Es ist August, einer der wärmsten Monate hier in Amerikas mittlerem Westen, in South Dakota. 35 Grad Außentemperatur zeigt das Thermometer an. Die Klimaanlage ist ausgefallen, die Fenster weit herunter gedreht. Das laue Lüftchen Fahrtwind verschafft kaum Abkühlung. Und immer noch ist es da, dieses Knattern, dieses bedrohliche Brummen wie das eines wütenden Bienenschwarmes. Immer wieder hatten uns an diesem Tag auf der Gegenspur Motorräder passiert. Was sich nun allerdings in den wenigen Quadratzentimetern Rückspiegel abspielt, in den ich mit einem Auge luge, lässt mich beinahe von der Straße abkommen. Hunderte Biker reihen sich dort auf wie in einer Prozession der Freiheit. Plötzlich ist unser Van das einzige Gefährt auf der Straße, das mehr als zwei Räder aufweist.

Eine Tankstelle. Wir fahren rechts ran. An den Zapfsäulen stehen Karossen, die Motorrad-Liebhabern daheim eine doppelseitige schriftliche Liebeserklärung abringen könnten. Der Zeiger auf dem Armaturenbrett bedeutet einen zu dreiviertel gefüllten Tank. Ich muss den in ledernen Hosen, einem Harley Davidson-T-Shirt, Lederweste und schwarzer Sonnenbrille gewandten Mittfünfziger in seiner Seelenruhe bei der Befüllung seines offensichtlichen Lebensinhaltes also nicht in unnötige Eile versetzen. Auch auf dem Vorplatz erstrahlt hundertfach Chrom in der geißenden Mittagssonne. Wir betreten auf unserer verzweifelten Suche nach Abkühlung den kleinen Shop. Erst wenige Schritte vor der Tür richte ich mein Augenmerk bewusst auf die Beschilderung der Baracke. „Sturgis“ erklärt dort Leuchtreklame in allen erdenklichen Farben. Ein Wort als Inbegriff einer Pilgerstätte.

"I rode mine to Sturgis"

Noch bevor ich den Türknopf berühren kann, mache ich einen Schritt zurück. Aus dem Laden stapft ein Mann, der jeden Hells Angel zum Schulmädchen verkommen ließe. Ein undeutbares Grunzen als Zeichen eingeforderter Autorität – oder war es doch nur ein freundlicher Gruß? - da stapft der korpulente, schweißgebadete Rocker in Richtung seiner Harley. Auf dieser drapiert wartet bereits seine strohblonde, vollbusige und eine Nadelröhr-Taille ihr eigen nennende Angebetete mit lüsternem Blick. Eine beachtliche Mixtur aus Schweiß, Öl und Bier vernebelt sämtliche Geruchssinne auf dem Weg in den Laden. Auch drinnen kaum Besserung. „Sorry, unsere Klimaanlage funktioniert schon seit Wochen nicht mehr“, erklärt der Mann hinter dem Schalter mit schmalen Lippen. Der provisorisch aufgestellte kleine Ventilator hechelte seinem Ableben entgegen. Zumindest der Kühlschrank tat noch wie ihm befohlen, die kalten Getränke mussten ein Geschenk Gottes sein. Ich frische unsere zur Neige gegangenen Wasservorräte auf. Als ich die vier Flaschen nacheinander auf den Tresen stelle, mustert mich der sonnengegerbte Mann mit Truckercap und Schnauzer. Ohne ein Wort weist er mit dem Daumen auf das Schild neben seiner Kasse, welches offensichtlich Rabatte für Angehörige mir unbekannter Motorradklubs offeriert. Ich schüttle den Kopf. „Fünf Dollar“, weist mich der Verkäufer an. Ich reichte ihm einen Zehner. Inzwischen reihen sich hinter mir bereits drei weitere Kunden auf. Ein Blick über die Schulter verrät, dass sie definitiv von der ausgelobten Rabattaktion profitieren würden. Der „fuckin‘ van“ habe genau vor seiner Maschine geparkt, höre ich den einen zu seinem Kollegen sagen. Was genau er am liebsten mit meinem Vehikel gemacht hätte, verstehe ich zum Glück nicht. Ich nehme hastig die fünf Dollar Wechselgeld und verlasse den Laden, ohne dem erbosten Bär von einem Mann mit dem Totenkopf-Tattoo auf dem nackten Oberarm in seine sonnenbrillenverspiegelten Augen zu schauen. Im Vorbeigehen fällt mein Blick auf einen Aufnäher, der seine Lederweste ziert: „I rode mine to Sturgis.“

Draußen hätte ich am liebsten die sofortige Flucht angetreten. Schnurstracks auf unseren Wagen zusteuernd sehe ich Andy – einer der Jungs aus unserem Van - mit einem weiteren Zweiradfetischisten am Kofferraum des Vans stehen. Unsere Blicke kreuzten sich, er lächelt. Offenbar ein friedlicher Zeitgenosse. Ich erreiche die beiden und nicke Andy zu. Als Jim stellte sich der vielleicht gerade einmal einmetersiebzig kleine Mann vor, mit dem mein Kumpel so angeregt plauderte. Die Sonnenbrille baumelt ihm lässig um den Hals, auch sonst ist seine Erscheinung von den schweren Motorradstiefeln mal abgesehen wenig angsteinflößend. Ich erzähle ihm von meiner Begegnung mit dem Van-Gegner. Jim lacht. Einen „konservativen Traditionalisten“ nennt er den Krawallbruder und erklärt: „Seit Jahren kommen immer mehr Familien hierher, die ihre Maschinen in Vans verladen und nur die letzten Kilometer bis Sturgis auf zwei Rädern fahren“. Das käme bei den hartgesottenen Bikern natürlich nicht besonders gut an. Ich wisse doch, was Sturgis bedeutet, fragt er mit hochgezogener Augenbraue. Ich beeile mich, seine Frage zu bejahen. Dass mir der „Event Sturgis“ bis vor wenigen Tagen unbekannt war, verschweige ich. Der guten Gesprächsatmosphäre zur Liebe.

Hundert Biker auf einen Bewohner

In einer lokalen Zeitung hatte ich erstmals von der „Sturgis Motorcycle Rally“ erfahren. Viele Erklärungen hatte der Journalist nicht geliefert, lediglich einige Key Notes und die Ankündigung, dass es bald wieder soweit sei. Der Verfasser der Zeilen setzte offenbar voraus, dass ohnehin jeder wusste, worüber er schrieb. Immer klarer wird mir nun warum. Lebt man hier in den Black Hills, kann man sich dem Pilgern von Harley-Davidson und Co. kaum entziehen. Mehr als 500.000 Biker seien im Vorjahr nach Sturgis gekommen – eine für mich bis dato unvorstellbare Zahl, die sich nun langsam mit Leben füllt. Auch in diesem Jahr war die Rally wieder traditionell in die ersten Augusttage gelegt worden. Mit 600.000 Teilnehmern rechnen die Veranstalter, in etwa das hundertfache der Einwohnerzahl des an 360 Tagen im Jahr verschlafenen Nests Sturgis, ließ der Journalist seine Leser noch wissen. Er hatte sein Ziel erreicht, mich neugierig gemacht und den Schlenker von unserer geplanten Route gen Chicago verursacht. Einige Internetrecherche ergab zwar weitere interessante Details, wie zum Beispiel den Umstand, dass die erste Rally erstmals bereits 1938 mit gerade einmal neun Teilnehmern ausgetragen wurde, wirklich vorbereitet auf das, was uns nun scheinbar erwartete, hatte es allerdings nicht.

Als wir schließlich auf unseren vier Rädern in diese so unscheinbare Ansammlung von Häusern im verruchten amerikanischen mittleren Westen einrollen, ist es um die Motorradliebhaber unter uns geschehen. Nie wieder könne er einen Biker daheim in Australien ernst nehmen, höre ich hinten im Van Jason in begeisterter Enttäuschung stöhnen. Kein Zentimeter Straßenrand, der nicht mit zweirädrigem Luxus bepflanzt ist. Aus dem Vorgarten des nächsten Hauses dröhnt verschnarrter Bassgitarrensound aus provisorisch installierten Boxen, auf Campingstühlen duellieren sich Bärtige, Kahlgeschorene, Tätowierte und Faltige um die Wahl zum „Mister Bierbauch“. Auf einem Tisch steht ein gigantisches Fass, aus dem sich eine Gespielin dieser Ur-Freien gerade am goldenen Gerstensaft labt. Wie viele Hektoliter Budweiser, Corrs und sonstiger Bier-Granden in diesem einwöchigen Wahnsinn fließen, entzieht sich dem menschlichen Ermessen um ein vielfaches. Auch ein Haus weiter balzen die treuesten Anhänger Harley Davidsons dort, wo sonst der Enzian blüht. An der Veranda weht im lauen Lüftchen stolz die amerikanische Flagge, über den Musikkanal scheppert Steppenwolfs Ode an die Unangepasstheit. „Sturgis loves Sturgis“, schlägt es uns von einem selbst beschrifteten Plakat an der Gartenpforte entgegen. Eine Stadt im kollektiven Wahn.

Das Zentrum des Unfassbaren

Wir biegen an der nächsten Kreuzung ab, in eine etwas ruhigere Seitenstraße. Tatsächlichen entdecken wir ein verwaistes Stück Straßenrand. Ängstlich, es könnte das einzige in diesem gefährlich summenden Nest sein, navigiere ich den Van dort hinein, stelle den Motor ab. Zu Fuß machen wir uns auf, die Ekstase des hunderttausendefachen Fetischismus weiter zu erkunden. An der Ecke fällt uns ein Polizist auf. Er lehnt lässig an seinem – natürlich – Motorrad, beobachtet durch seine Ray Ban-Sonnenbrille das Treiben auf der nahen Hauptstraße und vermittelt uns lebhaft das Klischee des typischen Ami-Cops. Sturgis weiß, wie es sich zu inszenieren hat, wenn die Rocker-Scharen einfallen. Wir sprechen den Gesetzeshüter an. Er erzählt uns, dass er gar nicht von hier kommt, extra aus einem benachbarten Bundesstaat hierher gerufen wurde. Dass es in der dortigen Polizeistelle eine Ausschreibung gegeben habe, wer denn zur Zeitarbeit ins Motorrad-Mekka reisen dürfe, überrascht uns mehr als die Auskunft, der Ort selbst habe nur fünfzehn Polizisten und sei deshalb auf Hilfe von Außerhalb angewiesen.

Downtown Sturgis. Main Street. Das Zentrum des Unfassbaren. Unzählige Biker. Motorräder, soweit das Auge reicht. Vor uns rollt ein Schlachtschiff eines Zweirades die enge, noch befahrbare Gasse entlang. Auf ihm ein Mann, der mit seinen baumstammbreiten Oberarmen im nachmittäglichen DSF-Unterhaltungsprogramm der späten neunziger Jahre hätte auftreten können. Die Schwarzhaarige hinter ihm kommt mit ihren Armen nicht um seinen massiven Körper. Über die Helmpflicht in Deutschland lacht man hier höchstens müde. Mit einem Grinsen hatte der Polizist uns vorhin gefragt: „So etwas gibt es bei euch?“ Mit Vollendung des 18. Lebensjahres muss in South Dakota zum Schutz der Augen lediglich eine Brille getragen werden, will man – und ja: man will – auf den Helm verzichten. Aus den unzähligen kleinen Shops am Straßenrand schallt eine Mixtur aus Guns n‘ Stones. Das riesige über die Straße gespannte Banner verkündet die siebzigste Auflage der Prozession. Der stete Geruch von Bier, der langsam meine Schleimhäute zu zersetzen scheint wird lediglich von feinen Schweißnoten attackiert, wenn sich gerade wieder einmal einer der Harley-Jünger ohne Anstalten der Kurskorrektur an uns vorbeigeschoben hatte. Wir haben schnell begriffen, mit welch rasanter Einfachheit viele dieser Herren dazu neigen, sich den Weg mit Fäusten freizukämpfen. Wer sich vor den nahenden Bordsteinsherriffs wegducken kann, ist klar im Vorteil. Mit eiserner, beinahe tranceartiger Aggressivität im Blick starrt jeder Passant den nächsten nieder. Könnten sie hier Mundharmonika spielen, das Lied vom Tod wäre ein Chartbreaker.

Die heimliche Nationalhymne

Abends, wenn im Schatten der städtischen Lichter in der Dunkelheit an einem Hang angelehnt an das berühmte Vorbild in den Hügeln von Los Angeles nur noch der Schriftzug STURGIS ausgeleuchtet ist, beginnt an dessen Fuße die zweite Etappe der Rallye. Und die führt die Teilnehmer nach ihrem Ausflug zum präsidialen vierköpfigen amerikanischen Nationalstolz am Mount Rushmore nun in die Bars und Kneipen des Örtchens. Die restlichen gut 550.000 Biker, die sich nicht mehr an den Türstehern vorbei in die vor Gejohle erzitternden überfüllten Schänken zwängen konnten, machen sich im Bruchteil in einem Anflug von Redlichkeit auf zur Nächtigung auf einem der mehr oder weniger naheliegenden Campingplätze der Umgebung oder aber verlegen im Gros die Festivitäten kurzerhand dorthin, wo schon am Tage der Wahnsinn re(a)gierte: Auf die Straße. Was in jenem Vorgarten nachmittags verhältnismäßig leise begann, wird nun bis zum Anschlag aufgerissen. „Born to be Wild“ schreien uns die Lautsprecher an. Wer noch stehen kann, bewegt seinen voluminösen Körper mehr oder weniger rhythmisch zum eingängigen Gitarrensound. Steht und fällt in den Südstaaten jede Festivität mit der Präsenz von Lynard Skynards heimlicher Nationalhymne „Sweet Home Alabama“ haben Steppenwolf den Soundtrack für Sturgis komponiert. Hier ist es der Soundtrack ihres Lebens.