Das Fenster ist heruntergekurbelt, der Fahrtwind streichelt unsere sonnengebräunten Gesichter. Die Luft schmeckt salzig hier an Amerikas Westküste. Am Morgen haben wir Los Angeles gen Norden verlassen. Jene quadratkilometerfressende Monströsität einer Großstadt, die endlose Touristenschlangen als Tor nach Kalifornien generiert. Wir haben jeden der 3,8 Millionen Stadtmenschen hinter uns gelassen und uns aufgemacht auf einen Weg, dessen Mythos dem Heiligtum Route 66 in kaum etwas nachsteht. Die California State Route 1, oder einfach Highway 1, verbindet auf 655 Meilen den Süden des Bundesstaates mit dessen Norden und führt neben Los Angeles auch durch San Francisco, die zweite, so viel europäischere Weltmetropole in Amerikas Westen. Seinen Beinamen – National Scenic Byway – hat sich dieser etwa tausend Kilometer charmant dahingleitende Pfad entlang der malerischen Pazifikküste wohlverdient. Entlang Stätten der seichten Surf- und Neopopkultur wie Santa Barbara schleicht jedes Vehikel anmutig durch die verworrenen Kurven purer Ästhetik. Urlaub für die Sinne.
Die magisch brechenden Wellen bahnen auf ihrem Weg gen goldglänzenden Sandstrand den Weg ins Surfer-Paradies. Der Blick aus dem Fenster fixiert immer wieder kleine schwarze Punkte in der Gischt, die ihre Bretter waghalsig elegant durch die Wellen manövrieren. Die Szenerie lädt ein in eine andere Welt. Hier wird das Ur-Bild des Immer-Sommer-Immer-Gute-Laune Bundesstaates Kalifornien gezeichnet. Bis auf den einsam und schweigend dahin schwelgenden Highway fehlen in der Fülle von Kontrasten menschliche Schandflecke. Zu weitläufig ist das Areal, als dass die vielen Touristen ernsthaft ins gestalterische Gewicht fielen. Stattdessen zeichnet die Natur hier ein idealistisches Portrait. Mal flach auf den zwischen glitzerndem Meer und Künstenland beinahe unwirklich unscheinbaren Strand zulaufend, mal, wie in der Region Big Sur, atemberaubend steil ins eiskalte Wasser abfallende Hänge – das Paradies ist vielseitig. Erfrischend klein fühlt sich das im Erstaunen stille Individuum Mensch angesichts dieser gewaltigen Natürlichkeit. Nörgler, die für gewöhnlich ihrer alltäglichen Tristesse geschuldet jeden noch so kleinen Makel ins Visier nehmen, verstummen vor der schöpferischen Perfektion, die sich ihnen hier offenbart.
Die Grenze des Begreifbaren
Weniger um Kommunikation verlegen ist eine Gruppe von Seelöwen, die sich im Sonnenbad zur Mittagsstunde damit vergnügt, ihre Nahesten mit dem feinkörnigen Sand zu bewerfen. Ihr munteres Spielchen gepaart mit dem eben so typisch unnachahmlichen Gegröle scheint den paar Menschen, die panisch versuchen, das Ungreifbare fotografisch festzuhalten, jubilierend entgegen zu schleudern: „Seht her und labt euch an der Schönheit unseres Seins, ehe ihr zu dem Irrglauben, die Krone der Schöpfung darzustellen, zurückkehrt.“ Hinter ihnen rollen geduldig die Wellen gen Festland. Amerika, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, sprengt an seinem westlichsten Punkt die Grenzen des Begreifbaren. In starrer Ehrfurcht steht man da und versucht, jede ach so wertvolle Sekunde in Leib, Herz und Seele zu konservieren. Keine technische Errungenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts könnte jemals die ganze Schönheit dieses güldenen Fleckchens Erde einfangen. In der Impressionenfülle stellt der Europäer fest, dass im Land von Ronald McDonald und dem Burger King eben auch die Natur Übergröße hat.
Die Ortsschilder, die wir passieren, singen die Namen der immer so gleich und doch so unterschiedlich reizvoll schönen Küstenstädte nur so daher und geben allen Anlass, im Himmel auf Erden für einen Augenblick träumend die Augen zu schließen. Entzückt lässt man sich entführen in eine andere Welt auf dem Highway der Hochgefühle. Der fesselnde Stress der wirklichen Welt scheint hier noch viel weiter weg als bloß arglistig hinter den grünen Bergkuppen lauernd. Ein Blick genügt, um klar zu machen, warum sich um diesen magischen Ort Legenden ranken, warum der Pleite-Staat Kalifornien für viele immer noch das Nonplusultra der unendlichen Leichtigkeit des Seins ist, dass hier den American Way of Life zu prägen scheint. Aus den Lautsprechern unseres Wagens klingt Leise die Gitarre von Jack Johnson, sie ist akustische Untermalung eines vollkommenen Kunstwerkes.
Das Teilstück verändert uns
Mit einem halben Auge auf der Straße und der restlichen Sehkraft auf der optischen Empfängnis der bizarr daherkommenden Unwirklichkeit fokussiert, fallen die wenigen versteckten Abzweigungen der Straße beinahe nicht auf. Im Fluge der Gefühle surrt der Highway unter unseren Rädern, ein Vier-Takter summte noch nie so leise wie hier. Hier, wo alles so unbeschwert dahingeht. Nicht umsonst hatte uns der verträumte Mann an der Rezeption am Morgen gesagt, dieses Teilstück werde uns verändern. An der Einfahrt zum Julia Pfeiffer Burns State Park stoppen wir unseren sorglosen Ritt auf der Avenue Liberté zum wohl hundertsten Mal an diesem Tage. Der kleine Fußmarsch durch wirres Gebüsch scheucht Vögel in allen erdenklichen Farben auf. Am Horizont, wo der azurblaue Ozean den nicht weniger strahlenden Himmel küsst, wird uns das I-Tüpfelchen der Schönheit langsam zur Last. Dort, wo der Pazifik in der Ferne seine Ruhe zu finden scheint, tanzt ein Wal in den Wellen, beehrt unsere vor Begeisterung verschämten Blicke immer wieder für Bruchteile von Sekunden mit seinem Erscheinen, ehe er sich zurück in die Tiefe seines Königreiches verabschiedet.
Als sich langsam die Schatten der Abenddämmerung über diesen Abschnitt unbeschwerter Freiheit legen und die glutrote Sonne im feuerroten Meer zu verdampfen droht, richte ich jeden Atemzug auf die befriedigende Konservierung des Momentes aus. Dann ruft die Realität.
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