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Mittwoch, 18. Mai 2011
Die Suche nach dem Schweinehund
Durch die Luft zieht einsam ein Adler. Ich schaue hinauf zu diesem königlichen Geschöpf, muss meinen Blick nur Zehntelsekunden später wieder abwenden. Zu grell fällt das Sonnenlicht in mein Auge. Die schnellen Kopfbewegungen überfordern den strapazierten Kreislauf, schummrig unterbreche ich den strammen Schritt, der mich seit mehr als acht Stunden auf dem Bright Angel Trail trägt. Als sich der unter Strapazen ächzender Körper kurzzeitig erholt, kann ich mich noch einmal umdrehen und den Blick schweifen lassen. Ganz weit dahin liegt der Plateau Point, wo wir noch vor einigen Stunden standen. Mitten im Grand Canyon.
Es ist Hochsommer. Hochsommer am frühen Nachmittag. Hochsommer in Arizona. Die Luft im Grand Canyon National Park flimmert. Wer das Geschenk eines Tages unkomprimierter Canyon-Erfahrung in den frühen Morgenstunden annahm, bezahlt es nun mit Schweiß, treibt seinen Körper an die Grenzen des Ertragbaren. Der Zeiger des Thermometers bedeutet staubverhangen Temperaturen von über 50 Grad. Der aufgewirbelte Dunst des Pfades trocknet den Schweiß auf unseren Beinen, ehe dieser von neuem zu fließen beginnt. Der Kreislauf der Erschöpfung.
Erst runter, dann rauf
Vom „South Rim“, dem südlichen Rand des Canyons, fällt der Trail sechs Meilen, bis er den Plateau Point erreicht. Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen dieses Kronjuwel der amerikanischen Nationalparks in eine orange-rote Morgenmelange tränkten, hatten wir uns auf den Weg gemacht. Der Tücke, die uns die nächsten Stunden begleiten sollte, waren wir uns bewusst. Zumindest in der Theorie. Immerhin hatten uns doch dieselben Warnschilder, die vor Lebensgefahr durch Hitzschlag oder körperlicher Überanstrengung gewarnt hatten, auch darauf hingewiesen. Der Trail wird erst sechs Meilen dahingleiten, ehe man den gleichen Weg in der Mittagssonne wieder zu erklimmen hätte.
Keine zwei Stunden brauchte es, da hatten wir den Plateau Point erreicht. In der morgendlichen Dämmerung waren wir den Trail geradezu hinunter geflogen. In unserer Eile – der Kühle wegen – versuchten wir zu vermeiden, der atemberaubenden Szenerie um uns herum im Verweilen zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Die Schilder hatten uns ja gewarnt. Wir mussten doch noch wieder hoch. Da bliebe dann mehr als genug Zeit für den vollen Genuss des Canyons. Sich dem Spektakel allerdings komplett zu verschließen ist gleichermaßen töricht wie unmöglich. Schon beim ersten Schritt auf den Pfad wird man ergriffen von der Magie, die in diesem Wunder der Natur mitschwingt. Die Nacht versucht mit letzter Kraft, die ungeheure Weite zu verschleiern. Mehr und mehr gewinnt das Tageslicht den Kampf gegen die Dunkelheit.
Reise durch die Erdgeschichte
Es ist still. Völlig still. Nur unsere schnellen Schritte hinab in den Canyon sind hörbar. Die verschollen geglaubten Töne der Hektik wirken gleichermaßen bedrückend und befreiend. Der Blick klebt für einige Sekunden auf dem anvisierten Ziel, dem Plateau mitten in diesem scheinbar unendlichen Loch in der Erdoberfläche. Dann gerät er doch wieder notgedrungen ins Schweifen. Der Abstieg in rund tausend Meter tiefer gelegene Gefilde gleicht einer Reise durch die Erdgeschichte. Die Farben des Gesteins der Felsen scheinen sich auf jedem Zentimeter in Nuancen zu verändern. Als der Blick auf halbem Weg über die Schulter fällt, wird klar, in welch facettenreichen Farbkontrasten sich die einzelnen Gesteinsschichten voneinander abzugrenzen versuchen.
Noch immer ist es still. Das Rascheln der Eichhörnchen im Gebüsch, das Zetern einiger Krähen ob dem nahenden Ende der Kühle der Nacht waren lange die einzigen Geräusche, die uns vor dem Irrglauben bewahrten, die einzigen Lebewesen hier zu sein. Immer flacher wird das Areal nun, immer näher rückt das Ziel. Inzwischen hat die Sonne die Dunkelheit verdrängt, Wolken haben am endlos blauen Himmel keine Chance.
Die blitzschnellen Bewegungen am Wegrand lassen sich zuerst nur schwer zuordnen. Erst ein zwei- und dreifaches Hinsehen entlarvt den Störenfried. Eine Klapperschlange präferiert angesichts unserer kleinen Wandergruppe den gebührenden Abstand. Es soll uns recht sein. Die immer dünner werdende Vegetation kommt einem sich öffnenden Vorhang gleich. Die letzten Meter auf dem Weg zu unserem Ziel sind der demütige Gang auf die große Bühne der Natur. Wahllos kreisen möchte man hier auf dem Plateau Point. Das Auge scheitert ohne den Hauch einer Chance, die Details dieses 360°-Panoramas zu registrieren. Die endlose Weite erschlägt den zum Zwerg geschrumpften Menschen.
Der lange Weg zurück
Ein langer Weg zurück liegt vor uns. Die zahllosen Serpentinen verschwimmen im Größenwahn des Canyons. Noch vor zwei Stunden ließ sich die feuchte Morgenluft besser atmen als die nun einsetzende Trockenheit. Vier Liter Trinkwasser, dazu salzhaltige und kalorienhaltige Snacks bereiten den Körper auf die Anstrengungen vor, denen er sich gleich würde stellen müssen. Unter dem Plateau rauscht noch einmal viele hundert Meter tiefer der Colorado River durch den Canyon. Wer bis zu seinen Wassern vordringen will, muss vorher bei der Parkverwaltung ein „permit“ – eine Erlaubnis – erfragen. Den kompletten Auf- und Abstieg an einem Tag zu bezwingen ist nicht nur lebensgefährlich, sondern ob der enormen Anstrengungen auch verboten.
Der kräftezehrende Weg zurück lässt uns spüren, warum. Immer heißer wird es, immer verzweifelter und in kürzeren Abständen erfolgt der Griff zur Wasserflasche. Es ist auch der Reiz der Anstrengung, der Überwindung des inneren Schweinehundes, der diese Herausforderung unvergesslich macht. Mehr als acht Stunden sind wir inzwischen unterwegs. Das Ziel versteckt sich weiter hinter zahllosen Serpentinen, die wir uns hinauf schleppen. Immer wieder drohen die Kräfte zu versagen. Das beste Mittel dagegen ist längst gefunden. Das stille Verweilen an einem der faszinierendsten Orte, den das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu bieten hat. Seine Ewigkeit wiegt jeden individuellen Kampf durch reine Ästhetik auf.
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