Sonntag, 20. März 2011

Zwischen Marlboro und Medizinmann


Wir sind noch nicht ganz im Tal, da verklebt der feinkörnige rote Staub bereits mit unseren unter stechender Sonne ächzenden Körpern. Einmal die große Schiebetür unseres weißen Vans geöffnet, schon ist der Kampf verloren. Roter Dunst überall. Die Luft flimmert, ist so trocken wie jeder Zentimeter knorriger Erde hier.

Kerzengerade führt die Interstate 163 auf diesem Stück durch das Grenzgebiet Utahs und Arizonas. Am Horizont türmen sich die bizarren Felsformationen des Monument Valley auf. Jene Säulen der Geo-Historie, die das Tal so einmalig charakterisieren. Die großen Mesas erinnern an ihren ausgewanderten Bruder Down under: Den Ayers Rock Australiens. Wie wir so auf sie zufahren, wirken sie einladend wie die Skyline einer Großstadt. Schon jetzt ist ihre bloße Erscheinung atemberaubend. Noch aber sehen wir sie nur aus der Ferne. Wir wiederstehen dem Trieb, das Gaspedal zu malträtieren, verschließen die Ohren vorerst vor dem Rufen dieser roten Giganten.

Ein weiterer Meilenstein


Am Rand des Weges ragt ein Schild aus dem roten Grund. Es ist der einzig grüne Farbklecks im scheinbar ewigen Rot. Die Büsche am Wegesrand haben ihren Lebensmut schon lange verloren, haben kapituliert vor dem existenzfressenden Wüstenklima. Sie vermitteln eine Tristesse, die dem Blick an den Horizont nicht standhält. Meine Augen treffen den Wegweiser. Es ist nicht mehr als ein weiterer Meilenstein, ganz im entmythisierten Sinne des Wortes. Dreizehn, sagt es schlicht. Und hat damit seinen extraordinären Nimbus gefunden. Diese dreizehn beschwört einmal nicht die bösen Götter herauf. Nein. Hier, wo wir nun unseren Wagen an den Straßenrand stellen, wurde großes Kino gemacht. Hier, nirgendwo im irgendwo, vor den Toren des Monument Valleys. Genau hier beendete Tom Hanks in seiner vielfach oscarprämierten Interpretation des Forrest Gump seinen Lauf quer durch das Land.

In der zehrenden Sonne verzichten wir darauf, es diesem zweidimensionalen Helden der Leinwand gleichzutun und lassen die Laufschuhe eng verschnürt im brütend heißen Kofferraum. Der Blick hinunter ins Tal und der Blick über die Schulter schweifen beidseitig in schier ewiger Länge. Die wenigen Autos, die diese Straße heute befahren, fallen schon Minuten, bevor sie im Angesicht der Kulisse andächtig vorbeischleichen, ins Blickfeld. Ein Picknick auf der Straße wäre ohne weiteres möglich, scheitert letztlich am Hitzegrad. Der matte Asphalt wehrt sich mit letzter Kraft gegen sein Schmelzen. Wir fühlen uns seltsam willkommen in dieser lebensfeindlichen Galerie der Natur.

Auf Holzbänken durchs Tal

Willie begrüßt uns wortkarg, aber mit Wärme und bedachter Freundlichkeit in der Stimme. Der Hitze zum Trotz trägt er verstaubte Jeans, ein aufgetragenes Hemd und zum Schutz vor dem gleißenden Sonnenlicht einen Cowboyhut. Dieser pointiert die Ironie, die in Willies Erscheinungsbild steckt. Denn Willie ist Navajo Indianer. Er steht vor einem alten Truck, der zur motorisierten Touristenkutsche umgemodelt wurde. Drei Reihen Holzbänke sind auf seiner Ladefläche montiert, überspannt von einem Sonnendach. Willie bietet Touren durchs Tal an. Touren, die Verständnis bringen sollen von der Magie und Historie dieses jahrelangen Lebensraumes der Indianer. Und Geld. Heute sind es nicht mehr viele Navajos, die hier noch wohnen und den (hoffnungslosen) Kampf um Werte und Traditionen weiterführen. Willie wird uns später erzählen, dass auch er in der Stadt wohnt, jeden Morgen mit seinem Wagen hierhergefahren kommt. Aber ja, er fühle sich als Navajo Indianer, sagt er. Manitu blutet das Herz. Unter meine Neugier mischt sich ein anderes Gefühl. Trauer. Willie lacht viel während der Fahrt. Er hat gelernt, mit diesem Leben umzugehen. Lache, wenn’s zum Weinen nicht reicht.

Totgefilmt von einer ganzen Armada von Western-Regisseuren ist das Valley der ewig projizierte Schauplatz des Lebens. Des Wirkens der Indianer und des westwärtigen Strebens der Siedler in ihrer „neuen Welt“. Dass sich hier einmal tatsächlich das Blut der Indianer mit dem ewigen Staub vermischte, ist für die Produzenten höchstens eine historische Randnotiz, die den Film noch greifbarer machen könnte. Das uramerikanische Flair, das mit dem Sand durch die ewige Weite weht, wurde auch von der Werbeindustrie missbraucht. Welcher Ort wäre besser geeignet, einen Marlboro-Zigaretten qualmenden Kostüm-Cowboy auf einen dieser steil aus dem Boden ragenden Felsen zu drapieren, um die Freiheit im Zeichen des Glimmstängels zu simulieren? Respekt vor den Navajo, für die die Mesa-Felsen heilig sind, darf da nicht erwartet werden. Höchstbietend entweiht für die beste Kameraeinstellung.

Fotos und Zigaretten


Willie stoppt den Wagen für ein paar Fotomöglichkeiten. Er zieht eine Marlboro-Schachtel aus der Tasche, steckt sich die Zigarette genüsslich an. Mein Dilemma ist perfekt. Inzwischen sind wir tief im Tal. Das Klicken der Kameras bleibt der verzweifelte Versuch, die ungreifbare Stimmung, die zwischen den Felsformationen flackert und Geist und Seele durchdringt, fotografisch festzuhalten. Müßig die Erwähnung unseres grandiosen Scheiterns.

Mal liefert sich Willie eine motorisierte Hatz mit irgendwem, lässt die Pferdestärken aufheulen, als wir durch die ausgefahrenen Wege brettern. Immer wieder kommen wir aber auch zu einem abrupten Halt, der uns den Hintermann regelmäßig näher als erhofft bringt. Willie erzählt, wie die Navajos hier im Valley leben. Oder was von der Definition des „Lebens“ noch übrig geblieben ist. Denn von den Hymnen, wie früher einmal alles war, könnte dieses simple Existieren kaum weiter entfernt sein.

Der Navajo macht uns immer wieder auf Besonderheiten in den Felsen aufmerksam. Der Adler, den die erodierten Wände darstellen, müssen wir länger suchen als einen seltsamen Spalt in der roten Wand, der einem Auge ähnelt. Langsam senkt sich die Sonne. Nun entfalten diese seltsamen Stein-Auswüchse rot glühend ihren ganzen Reiz. Der Mensch gibt sich ohnmächtig hin im Balzen der Natur. Der Fels schimmert in einem ungeahnten rot, während der Himmel langsam vom Blauen ins Orange taumelt und das Farbspiel komplettiert. Ein letztes Mal hält Willie den Wagen an, bedeutet uns, auszusteigen und uns an die Felswand zu lehnen, die Augen zu schließen. Er gesellt sich zu uns, seine traditionelle Flöte in der Hand. Schon die ersten Töne entreißen den Boden unter den Füßen. Man träumt dahin. Die Musik stoppt für einen kurzen Augenblick, plötzlich erfüllt die brüchige Stimme des Indianers ohne jegliches Hilfsmittel die Umgebung. Worum es in dem Lied geht, verstehen wir nicht. Wir können es nicht verstehen, scheitern an viel Existenziellerem als lediglich der Sprachbarriere. Kein Bleichgesicht hört genau genug hin, wenn der Indianer von der Natur erzählt. Und doch ziehen uns die Melodien in ihren Bann. Noch viel später in dieser Nacht habe ich sie im Ohr. Die tongewordene Symbiose zwischen Mensch und Natur.

Kein-Stern-Pension als purer Luxus

Als die Räder durchdrehen und hinter uns der Staub noch wilder aufwirbelt, beginnt Willie, das Vehikel in Richtung Navajo-Dorf zu steuern. Wir stecken tiefer im Tal, als es den meisten Touristen erlaubt wäre. Die Gesellschaft der Navajos funktioniert als Einladung. Es ist ein Geben und Nehmen. Für die Indianer ist diese Art des Tourismus lebenserhaltend, für den Besucher ist sie schlicht einzigartig. Wir stehen vor unserer Pension, einem großen, kreisrunden Lehm-Iglu, genannt Hogan, die traditionelle Behausung der Navajos. Selbst, wer sich noch am Nachmittag ängstlich um Komfort gesorgt hatte, entspannte nun seine Gesichtszüge. Auch das Gewohnheitstier Mensch hat seine Momente. Plötzlich zählen andere Werte. Anpassungsfähigkeit und Wertschätzung der Gastfreundlichkeit zum Beispiel. Das schlichte Leben als Inspiration.

Inzwischen hat es auch die letzten Strahlen goldenes Sonnenlicht dahingerafft und Dunkelheit legt sich über die Monumente. Zum ersten Mal sind ihre Kontraste unscharf. Und trotzdem. Abermillionen von Sternen malen den Weg in den immer noch warmen Sand. Im Lagerfeuer knistert das trockene Holz. Wieder und wieder stoben die Funken auseinander und tänzeln einige Sekunden gen Nachthimmel. Selten fühlte man sich verstoßener aus der eigenen Welt. Selten fühlte man sich besser.

Im Lichtkegel des Feuers tritt eine Gestalt an die Flammen heran. Willie raunt uns zu, dies sei der Medizinmann des Stammes. Der Respekt in seiner Stimme nötigt mir Anerkennung ab. Das Auftreten dieses Weisen ist majestätisch, ohne die eigene Größe zu überschätzen. Wie der Medizinmann zu tanzen beginnt, verliert er ohnehin jeglichen Kontakt zu irdischem Geschehen, so scheint es. Ich sitze bedächtig im roten Sand und fühlte mich wohl nie vollkommener.

Dienstag, 1. März 2011

Gefangen im Wilden Westen


Das alte Holz der Veranda knarrt, zweimal hört man das metallene Klacken der Sporen. Tick, Tack. Dann bleibt der Mann stehen. Hinter ihm schwingt die Flügeltür zum Saloon zurück. Direkt an der Kante der zwei Stufen bis zum Staub steht er. Man schaut langsam an ihm hoch – vom kunstvoll prägnanten Stiefelwerk himmelwärts entlang der braunen Lederhose, die vom lässig weiten Gürtel gesäumt wird. An seiner rechten Hüfte baumelt im Halfter der Colt. Das weit aufgeknöpfte Hemd steckt in der Hose, wird von der ledernen Weste optisch abgedämpft. Auch das Halstuch kann die braungebrannte Brust unter dem Hemd nicht vollends verbergen. Man erkennt ein kleines hölzernes Kreuz an einem Stück Kordel. Weit ins Gesicht gezogen thront der Cowboyhut auf dieser nostalgischen Erscheinung. Unrasiert und betont grimmig dreinschauend tritt der Mann die Stufen herunter. Drei Schritte. Tick, Tack, Tick. Der aufgewirbelte Staub vom knochentrockenen Boden wird von einer leichten Brise davon getragen. Kein Mensch sagt ein Wort, zu imposant kommt dieser Kanonenheld daher.

Die Fassade beginnt zu bröckeln

Plötzlich lacht einer. Ein zweiter. Der Mann kann die eben noch wie in Stein gemeißelte ernste Mimik einfach nicht mehr halten, muss grinsen. Das „Howdy“, das er in einem ungewollten Anflug von Heiterkeit herauspresst, lässt die Tarnung auffliegen. Cowboys mit britischem Akzent sind in South Dakota nicht besonders breit gestreut. Andy kann seine englische Herkunft nicht verbergen, trotz perfekten Auftretens ist die Blase geplatzt. Ich muss nun so sehr lachen, dass mir in meiner Unachtsamkeit eine Windböe den eigenen Hut vom Kopf reißt. Mein Erscheinungsbild unterscheidet sich nur marginal von dem dieses entblößten Outlaws. Schaut man die hölzernen Häuser herunter, prägen noch mehr dieser Karl May’schen Relikte die Wild Western-Szenerie.

Nicht umsonst heißt dieses ur-amerikanische Fleckchen 1880-Town. Die Besitzer, ein in die Jahre gekommenes Ehepaar, lächeln jeden der noch an zehn Fingern abzählbaren Besucher an diesem warmen Morgen Anfang August freundlich an. Sie selbst tragen traditionelle Cowboy-Trachten. Kommt sie als ehrbare Mistress daher, steckt er selbst bis knapp unter den Kniekehlen in fein gearbeiteten Lederboots. Neun Dollar tauschen die Autos auf dem Parkplatz vor dem als Museum, Gift-Shop und Eingang fungierenden Holzverschlag gegen hölzerne Kutschen, Saloons und sonstige Bestandteile einer waschechten Western-Stadt. Eine einmalige Zeitreise beginnt.

Ein Sack Kiesel

Das Schild, das leise im Wind schwingend in abblätternder Farbe „Sheriff“ warnt, ist das letzte Detail, das ich wahrnehmen kann, ehe das Schloss klickt und ich hinter Gittern lande. Auch nach 130 Jahren darf man noch nicht wild den Colt schwingend und das Halstuch über Mund und Nase gezogen in eine Bank spazieren und den dort lagernden Goldsack entwenden. Der ist zwar nur mit Kieselsteinen gefüllt – es geht ums Prinzip. Der Streit um die Beute eskalierte vor der Tür zwischen zwei ehemaligen Komplizen. Plötzlich ist Andy nicht mehr auf meiner Seite, will sich mit dem Säckchen Reichtum alleine aus dem Staub machen. Wir stehen uns in dreißig Fuß Entfernung gegenüber, die Hand nur Zentimeter über dem locker sitzenden Schießeisen schwebend. Wir sind bereit, den schneller Ziehenden mit einem erbärmlichen Rest Ruhm und dem Goldsack entkommen zu lassen, während sein Gegenüber tödlich getroffen mit dem Gesicht im Staub auf die Geier warten wird. Da kommt der Sheriff um die Ecke, plötzlich und unerwartet. Die wilde Schießerei kostet mehrere seiner Männer das Leben, schließlich sind wir aber doch umstellt. Statt bei einer Runde Poker und Feuerwasser im Saloon fröhlich die Beute zu verschleudern droht uns nun der Galgen. Immerhin waren auf unsere Köpfe 10.000 Dollar Belohnung ausgesetzt. Diese spart der Sheriff nun, da er uns selber quasi vor der eigenen Haustür zur Strecke gebracht hat.

Die schwere Eisentür ist hinter uns ins Schloss gefallen. Jason in seiner Gesetzeshüter-Tracht lacht draußen triumphierend, während Andy und ich uns einen kurzen, erbitterten Kampf um die enge, ungemütliche Holzpritsche liefern. Wir werden nicht lange einsitzen, werden dem Galgen entkommen. Denn der Sheriff ist eigentlich auf unserer Seite.

Besuch von Kevin Costner


Noch einmal fünf Dollar – fünf läppische Dollar – zahlt man in 1880-Town, um aus einem scheinbar unerschöpflichen Fundus von Cowboy-Gewändern die passende Verkleidung auszusuchen. Sweatshirt und Jeans sind schnell achtlos in die Ecke geworfen und gegen Stiefel, lederne Hose und weites Hemd getauscht. Der Wettlauf um die beste John Wayne-Kopie ist längst entbrannt. Dass es die Besitzer dieses Freiluft-Museums mit ihrer Sache ernst meinen ist die eigentliche Ironie dieses Ausfluges in kindliche Traumwelten. Plötzlich werden längst vergangen geglaubte Geburtstags-Mottopartys trügerische Beinahe-Realität. So greifbar, dass selbst die Traumfabrik aus Hollywood mitten in der Prärie South Dakotas Halt machte, um Teile seines Erfolgsstreifens „Der mit dem Wolf tanzt“ hier zu drehen.

Der junge Kevin Costner ist nur einer der wenigen Besucher, die die stolzen Besitzer in den letzten mehr als dreißig Jahren begrüßen konnten. Heute Morgen sind wir es, die sich in den dreißig altgediegenen Western-Stätten mit ihren unzähligen Repliken in unseren Fantasien verlieren. Amerikana nennt man die auf US-Traditionen aufbauenden kulturellen Erscheinungen wie diese Cowboy-Stadt, die sich hier im ehemaligen „Wilden Westen“ ballen. Dort, wo früher die Sioux-Indianer durch die Prärie ritten, hat lange nach den ersten Siedlern freilich die Moderne Einzug gehalten und lässt den magischen Ort 1880-Town deshalb nur noch unwirklicher daherkommen.

Die Zeit drängt

Anderthalb Stunden haben wir uns als maximales Zeitfenster für diesen Stop gesetzt. Zu lang ist die Strecke, die wir noch zurücklegen wollen auf unserem Weg ins ferne Chicago. Neunzig Minuten flogen auch vor 130 Jahren noch nur so dahin, verbringt man sie damit, den Akku der Digitalkamera auf Äußerste zu strapazieren. Der Fotoapparat passt nicht in diesen Ort, in dem Verbrechen noch mit der Schlinge um den Hals oder in Teer und Federn endeten. Und doch können wir nicht auf ihn verzichten. In ein paar Augenblicken werden wir dort vorne wieder durch den Giftshop hinaus zu unserem Auto gehen. Wenn die Flügeltür dann zurückschwingt, sind wir wieder da im Hier und Jetzt. Dann ergänzen und erfrischen die Fotografien unsere Erinnerungen an einen Ort, in dem wohl jede Western-Legende schon mindestens ein Dutzend Male spielend nachempfunden wurde. Und was dann bleibt, sind die glänzenden Augen und das Lächeln eines kleinen Jungen an seinem sechsten Geburtstag.